Montag, 30. Juni 2014

Prostitution: Lektionen von den Straßen Europas

Quelle: The Toronto Star (dort befindet sich auch ein sehr empfehlenswertes Video zum Thema)
Autorin: Heather Mallick
Illustratorin: Ainsley Ashby-Snyder
02.06.2014, übersetzt und veröffentlicht mit der freundlichen Genehmigung von Heather Mallick und der Redaktion des Toronto Star 


Der Handel mit Sex steht kurz vor der Veränderung. In dem Moment, als Kanada seine Strafgesetze überdenkt, reist Heather Mallick quer durch Europa, auf der Suche nach Erkenntnissen, die Kanada weiterhelfen könnten. Was können wir von Schweden, Deutschland und den Niederlanden lernen?


STOCKHOLM—Während sich Kanada auf eine radikale Änderung seiner Strafgesetzgebung in Sachen Prostitution vorbereitet, sollten wir Wähler uns eine Multiple-Choice-Frage stellen. Ist das Kaufen und Verkaufen sexueller Dienstleistungen unter Erwachsenen:
    a) ein fundamentaler Ausdruck der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern
    b) eine harmlose Geldtransaktion, die mit keinem Stigma verbunden sein sollte
    c) etwas Schreckliches
    d) etwas Schreckliches, das wir nun einmal nicht ändern können
      Es gibt kein e) keine der genannten Antworten oder f) alle Antworten. Sie müssen sich entscheiden, weil definitiv eine Veränderung auf uns zukommt und Sie so und so eine Meinung dazu haben werden, wahrscheinlich sogar eine laute, wenn es das Gesetz beispielsweise gestattet, dass Prostituierte von Wohnungen aus arbeiten. Solche eine Wohnung könnte direkt nebenan sein.

      Das mag unwahrscheinlich erscheinen, ist es aber nicht. Die neue Gesetzgebung von Kanadas konservativer Regierung steht unmittelbar bevor. Voraussichtlich kommt sie im Juni, nachdem ein Beschluss des Supreme Court zur Eile geboten hat, laut dem die körperliche Sicherheit von Prostituierten nicht länger als belanglos abgetan werden kann.

      Der Beschluss entstand vor der grauenhaften Kulisse der Gesichter und Leichen der Opfer des Serienmörders Robert Pickton. Man könnte sagen, dass der Gerichtsentscheid für sie gemacht wurde.

      Um einen eigenen Beitrag zu leisten, bin ich im Mai quer durch Mittel- und Nordeuropa gereist. Ich wollte erfahren, was drei Länder – Deutschland, die Niederlande und Schweden – bereits gelernt haben. Was würde den Wertvorstellungen Kanadas am besten entsprechen?

      Die vorliegende Geschichte schrieb ich aus tiefer Loyalität für andere Frauen heraus, so altmodisch und verhöhnt diese Art des Feminismus auch sein mag. Ich unterhielt mich mit Rechts- und Polizeiexperten, mit der jungen Gründerin einer Sexwork-App, mit Bordellarbeitern, Prostitutionshistorikern und Kommentatoren, mit Autoren, Dokumentarfilmern und vor allen Dingen mit derzeitig tätigen und ehemaligen Prostituierten. "Sprich mit den Frauen", so hörte ich von allen Seiten, und das tat ich auch.

      Es war keine einfache Reise, denn sie reichte, so wie es bei Menschen eben ist, von Elend zu unverwüstlicher Hoffnung, von kalt zu warm. Ich denke an die Menschen zurück, mit denen ich mich in verschiedenen Teilen des Kontinents unterhalten habe. Wie in einer Collage menschlicher Betroffenheit sehe ich sie vor meinem geistigen Auge vorüberziehen, ich sehe sie reden, im Glauben, dass ich sie nicht enttäuschen werde.

      Ich fürchte, manche von ihnen werden denken, dass ich genau das getan habe, denn diese Reise hat bei mir ein Umdenken bewirkt.


      Sind sie "SexarbeiterInnen"?

      Jene, die wollen, dass Prostitution legalisiert wird, zeichnen sich durch die Forderung aus, dass man von "Sexarbeit" spricht. Das ist damit vergleichbar, dass man das Wort "Vergewaltigung" durch die Wörter "sexuelle Nötigung" ersetzt. Jargon hat die Angewohnheit, mehr Wortgut anzuhäufen und die Bedeutung zu dämpfen. Die meisten Leute, die ich in Berlin und Amsterdam interviewte, nannten Prostituierte "Sexarbeiterinnen" bzw. "Sexarbeiter". In Stockholm waren sie "Prostituierte". Ich habe beschlossen, mich an Letzteres zu halten.


      Rachel Moran,
      ehemalige Dubliner Prostituierte
      und Autorin von "Paid For"


      Hinter dem Ausdruck "Sexarbeit" verbirgt sich die Denkweise, dass Sex ein Job wie jeder andere ist. Das ist so, als würde man Buchführung "Zahlenarbeit" nennen.

      Ich bin eine praktische, keine ideologische Feministin, und wenn ich die Dinge an dieser Stelle auf den Punkt bringen darf – was Leute oft in Rage versetzt –, so zeichnet es extremistische Ideologien aus, dass sie greifbaren Dingen das Leben aussaugen und Theorien aus ihnen machen. Lesen Sie keine Romane, zerpflücken Sie Texte. Abstrakte Kunst ist besser als figurative, Videoinstallationen besser als Gemälde und Sexarbeit nichts weiter als eine Form des Einzelhandels.

      Ich bin anderer Meinung. "Sexarbeit" klingt in der Theorie gut, aber man versuche, solch ein Leben zu leben. Der Gedanke, dass es das Normalste der Welt sein soll, dass Tag und Nacht jemand in einen eindringt, einen hin und her zerrt, schlägt, stößt, zurichtet, mit anderen Worten, Sex, aber ohne Spaß, erscheint mir absurd. Das ist so, als würde man auf einem Messer statt auf einem Stuhl sitzen und behaupten, man habe es da genauso bequem.

      Der Beweis? Es gibt ein kleine Welle neuer Bücher zum Thema Prostitution, von Chika Unigwes Roman Schwarze Schwestern über Frauen, die aus Afrika verkauft werden und in den Schaufenstern Antwerpens landen, bis hin zu Melissa Gira Grants vielzitiertem Hure spielen: Die Arbeit der Sexarbeit. Zu Letzterem lässt sich nur sagen, dass es eine Leistung ist, bei einem so interessanten Thema so fade zu sein.

      Mit Abstand das beste Buch jedoch ist Paid For: My Journey Through Prostitution, Rachel Morans 2013 erschienene Memoiren über die sieben Jahre, in denen sie sich von ihrem 15. Lebensjahr an auf den Straßen Dublins verkaufte. Für dieses Buch trifft ausnahmsweise einmal die Bezeichnung "orwellianisch" zu, denn in schlichtem Prosastil bringt sie tiefgründige Analysen zu Papier, mit einem Fischhaken als Feder, mit dem sie erschütternde Erinnerungen an Land zieht. Es ist ein modernes Erledigt in Paris und London, nur, dass sie ein Mädchen war, ihr grauenhafte Dinge angetan wurden und all dies vor nicht allzu langer Zeit geschah.

      Ich las Paid For kurz vor meiner Abreise nach Europa und griff erneut danach, als ich zurückkam. Jedes Mal, wenn jemand Sexarbeit als Berufswahl verteidigte – und es waren wundervolle, intelligente Menschen, die meinen Respekt und meine Zuneigung gewonnen haben, die mir gegenüber so argumentierten -, trat mir Morans Geschichte ins Gedächtnis und ich erschauderte.

      Armut, Obdachlosigkeit und Drogenabhängigkeit – welches Kind kommt aus diesem Dreigestirn unbeschadet hervor? Moran hatte eine an Schizophrenie leidende Mutter und einen bipolaren Vater, der sich aus einem Fenster stürzte, als sie 13 war. Sogar im Kleinkindalter habe sie gespürt, dass ihr Zuhause "anders" war als das der anderen. "Das Leben, das ich als Kind erfuhr, bereitete mich auf die Prostitution vor, weil es mich darauf vorbereitete, auch weiterhin außerhalb der Sphäre der Normalität zu leben."

      Soziale Ausgrenzung steht im Zentrum des Leidens einer Prostituierten, was Moran als "Schule" des Schmerzes bezeichnet. Jede, mit der ich sprach und die eine Legalisierung befürwortete, erwähnte diesen Schmerz, das Stigma gegenüber Prostituierten, die ihnen aufgebürdete Heimlichtuerei, die Angst davor, fotografiert zu werden. Niemand will Hure, Flittchen, Nutte, Callgirl genannt werden. Auch "Escort-Dame" will niemand genannt werden, obwohl sie zur gleichen Zeit behaupten, dass es sich hierbei um eine noblere Form der Prostitution handelt, wenn es doch in Wahrheit ein noch einsameres und, wie manche sagen, gefährlicheres Dasein ist.

      Nun ist es aber so, dass die Fürsprecher einer Legalisierung etwas wollen, das sie nie bekommen können. Ich glaube nicht, dass das Stigma je verschwinden wird, nicht in Nordamerika. Und überhaupt, wem käme dies am gelegensten? Ganz einfach den Käufern. Zu ihnen kommen wir allerdings gleich noch.

      Kanada: Es geht vor Gericht


      Der bahnbrechenden Beschluss des Supreme Court of Canada, der Bewegung in die ganze Sache brachte, kam letztes Jahr kurz vor Weihnachten. Die Regierung Kanadas wurde aufgefordert, binnen eines Jahres eine grundsätzliche Entscheidung zu dieser alten Frage zu finden, genauer gesagt, ob Prostitution ein Verbrechen ist und wenn ja, welcher Art. Wer sollte dafür angeklagt werden, die kaufende oder verkaufende Partei? Wenn nein, wie sollten Prostituierte ihre Tätigkeit dann ausüben?


      Ich teile die Auffassung des Obersten Gerichtshofs, dass die körperliche Sicherheit gefährdeter Frauen bei jeglicher neuen Gesetzgebung oberste Priorität haben muss. Es versteht sich von selbst, dass die Hauptaufgabe einer Regierung darin besteht, ihre BürgerInnen vor einem gewaltsamen Tod zu schützen. In Kanada jedoch, wo der Serienmörder Robert Pickton in Vancouver die Leichen seiner Opfer an Schweine verfütterte und wo nahezu 1.200 indigene Frauen (darunter einige Prostituierte) verschwunden sind oder ermordet wurden, haben wir kläglich versagt.

      Der Umstand, dass sich niemand um die Prostituierten schert, bildete den Kontext des kanadischen Gerichtsbeschlusses. In Sachen Sozialstatus fliegen sie nicht nur unter dem Radar, sondern befinden sich unter dem Wasser. Dieses Wasser ist schmutzig. Wir stellen sie uns als laut vor, als vulgär, als mit einem Makel behaftete Menschen, und haben sie mit unserer Abscheu in entsetzlich angreifbarem Zustand auf der Strecke gelassen. Das Ziel des Gerichts bestand darin, ihrer Schmähung ein Ende zu setzen.

      Grundsätzlich gibt es drei Ansätze, um mit Prostitution umzugehen.

      Der erste Ansatz lautet Legalisierung. Die Niederlande hatten die Prostitution lange Zeit stillschweigend gebilligt – De Wallen, der Rotlichtbezirk in Amsterdam, ist seit Langem bekannt -, offiziell legalisierten sie sie jedoch erst im Jahre 2000. Deutschland zog 2001 nach. Die Prostitution sollte von der Regierung reguliert, kontrolliert und besteuert werden, wie es beim Gastronomiegewerbe der Fall ist. Doch Deutschland hat noch ganz andere, nie zuvor dagewesene Dimensionen geschaffen. Seine Bordelle haben es zum "Bordell Europas" gemacht, zu einem Magneten für Kunden, völlig mittellose Frauen aus Osteuropa und SexhändlerInnen.

      Der zweite Ansatz sind Verbote. In Kanada ist die Prostitution streng genommen nicht illegal, aber ihre "Aktivitäten" sind so stark reglementiert, dass sie auch gleich verboten sein könnte. In den USA ist sie illegal, ob sie nun in Bordellen, auf der Straße oder in Escortagenturen in Erscheinung tritt, mit der Ausnahme von Nevada. Amerika wird die Prostitution niemals legalisieren, die Bordelle Nevadas sind der Grund dafür.

      Der dritte Ansatz schließlich ist das sogenannte Nordische Modell, das verschiedene Länder wie Schweden, Norwegen und Island umgesetzt haben. Dort ist Prostitution ein Verbrechen, doch anstelle der VerkäuferInnen werden jene zur Verantwortung gezogen, die deren Situation ausnutzen, darunter die KäuferInnen. In Schweden wird den VerkäuferInnen Hilfe angeboten – Ausbildung, Behandlung bei Drogenabhängigkeit, soziale Unterstützung. Der Dreh- und Angelpunkt dabei ist, dass beide Aspekte, also Kriminalisierung und Unterstützung, als gleichermaßen essentiell betrachtet werden. Das Gesetz fand bei Parteien sowohl im konservativen als auch linken Lager Zuspruch. Im Februar stimmte die EU zugunsten des Nordischen Modells, was jedes EU-Land unter Druck setzt, nachzuziehen.

      Das kanadische Gericht hatte einen Fall geprüft, den drei aktuelle oder ehemalige Prostituierte vorgebracht hatten, darunter die Domina Terri-Jean Bedford, die eine Zeit lang einen "Bondage Bungalow" in Thornhill, Ontario, betrieben hat. Sie hoffen auf eine Legalisierung.

      Der Gesetzentwurf war auf die Schnelle zusammengestellt worden, schließlich wurden die Kanadier noch bis Mitte März zur Mithilfe aufgefordert, indem sie sich auf die Internetseite des Justizministeriums begeben und einen Fragebogen darüber ausfüllen sollten, wie die Gesetze ihrer Meinung nach aussehen sollten, eine höfliche Art und Weise, zu sagen: "Wie viel sind Sie beim Thema Prostitution bereit zu ertragen?" Mit anderen Worten, wenn wir die Sache durchziehen, wäret ihr dann so wütend, dass es eure Wahlentscheidungen beeinflusst?

      Letzten Dezember hat das Gericht so erstaunliche Dinge verlauten lassen, dass man überrascht ist, dass es keinen Weihnachtsaufstand gegeben hat. Wie die Internetseite in bewunderungswürdig besonnener und klarer Juristensprache ausführt, steht der Sexhandel kurz vor dem Wandel, und zwar nicht nur in seinen Grundzügen, sondern das gesamte Konzept des Sexkaufs an sich. Wendungen alter Schule zur Bezeichnung von Dingen, die einmal gesetzwidrig waren, man denke an "Freudenhäuser", "auf den Strich gehen" und "auf jemandes Kosten leben" könnten nicht mehr darin auftauchen.

      Wenn die konservative Regierung keine konkreten und umfassenden Leitlinien für diese komplexe Thematik vorlegt, dann können Prostituierte offiziell in Innenräumen arbeiten, das heißt in Häusern oder Wohnungen, Massagesalons oder Stripclubs, dann können sie Bodyguards und Fahrer mieten und von Rechts wegen im öffentlichen Raum "Informationen verteilen", sprich, auf der Straße.

      Denken Sie darüber nach. Toronto könnte Bordelle am Hals haben. Gleiches gilt für Kamloops und Gimli.

      Nein, denken Sie genauer nach. Das Haus nebenan – oder die Wohnung, von der Sie eine dünne Wand trennt – könnte ganz legal Männer empfangen, die Sex kaufen; sie müssten den Aufzug mit ihnen teilen, Ihre Kinder würden ihnen auf der Straße über den Weg laufen.

      Wie jede ernsthafte Bürgerin und jeder ernsthafter Bürger füllte ich das Formular so aus, dass es vollkommen unbrauchbar war. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich entscheiden sollte. Wer weiß das schon?



       

      Deutschland

       

      Pia Poppenreiter, eine 27jährige Österreicherin mit einem Abschluss in Wirtschaftsethik, schlenderte im vergangenen Winter nachts Berlins berühmt-berüchtigte Oranienburger Straße entlang. Wie sie sich so die heruntergekommene Szenerie des Straßenstrichs ansah, kam ihr ein guter Einfall. "Die Geschichte klingt immer kitschig, aber es ist wahr," erklärte sie The Local gegenüber. "Es war kalt und ich sah die armen Mädchen auf der Straße und dachte, warum gibt es dafür keine App?"
      Besagte App heißt Peppr.it und ist eine reizende Art, Käufer und VerkäuferInnen zusammenzubringen, eine Art App zur Partnervermittlung, aber gegen Geld. Prostituierte, die sie "Pepprs" nennt, laden kostenlos ihre Profile hoch und die Kunden, die sich registrieren, zahlen einen geringen Tarif von 5-10 Euro (7,50-15 Dollar), um sie per Anruf zu buchen. "Wir sind wie Uber für Prostituierte", sagt sie in Bezug auf die Taxi-App. "Die Nachfrage ist riesig."


      Pia Poppenreiter, eine 27jährige Österreicherin mit einem
      Abschluss in Wirtschaftsethik, schlenderte vergangenen Winter
      zur Nacht Berlins berühmt-berüchtigte Oranienburge Straße
      entlang. "Es war kalt und ich sah die armen Mädchen auf der
      Straße und dachte, warum gibt es dafür keine App?" Und schon
      war die App zur Verwaltung von Dates, peppr.it, geboren.
      Kunden wird es leicht gemacht, sich anzumelden und ein Treffen zu arrangieren. Peppr, das sowohl mit Agenturen als auch Einzelpersonen zusammenarbeitet, befragt die Pepprs über Telefon, ein Versuch um sicherzugehen, dass sie zu nichts gezwungen werden. Die App arbeitet mit einem Zahlungsdienstleister zusammen. "Sie haben den Namen, wir nicht. Wir speichern keine Daten." Keine Frage, Peppr gewährt mehr Sicherheit.

      Es ging am 1. April an den Start und hat bereits weltweit für großes Aufsehen gesorgt. Im Moment sieht sie sich nach der zweiten Finanzierungsrunde um, doch hier klemmt der Schuh. Die Investoren wollen, dass Peppr den Geldtransfer abwickelt, statt dass es bei einer geringen Pauschale bleibt, aber das verweigert Poppenreiter. "Ich will keine Zuhälterin sein."

      "In Berlin bekommt man auf der Kurfürstenstraße Sex gegen 30 Euro (44 Dollar) für 20 Minuten im Auto", sagt sie, doch ihre Buchungen dauern nie weniger als eine Stunde, wobei der niedrigste Preis bei 115 Euro (170 Dollar) und der Durchschnittspreis bei 200 Euro (295 Dollar) liegt.

      Peppr.it nennt seine Käufer "Gentlemen". Ich gebe ihr zu bedenken, dass wir in Kanada über solche Männer als "Loser" sprechen. Bei uns gibt es den Ausspruch "send them to 'john school'" - sie sollen sich zur Freierschule scheren.

      Ihr fällt die Kieferleiste herunter. Sie betrachtet es keineswegs als armselig, wenn Männer Prostituierte anheuern, Männer, die es nicht schaffen, an ein Date heranzukommen, die gegen Frauen Groll hegen, die meinen, es sei nichts dabei, in einem Auto Sex zu haben, auf dessen Rückbank ein Kindersitz steht, die sich "sexsüchtig" nennen, als würden sie nicht anders können.

      Sie und ich spazierten zusammen auf der Oranienburger Straße entlang, so wie sie damals, und sie versucht, mir die sexuelle Landschaft Mitteleuropas zu erklären, was mir ebenso schleierhaft vorkommt wie Wiener Schnitzel und warum die Leute darauf schwören.

      Poppenreiter ist eine Schönheit – sie ist groß und blond und hat wunderschöne, schneeweiße Haut. Das sollte man zwar nicht erwähnen, aber ich denke, in einem Land, das nicht gerade wohlwollend gegenüber ehrgeizigen Frauen oder Frauen im Allgemeinen ist, verschafft ihr dies Macht.

      In einem steifen, traditionellen Restaurant für gut situierte Geschäftsmänner essen wir zu Mittag. "Oh, 90 Prozent der Männer hier sind schon bei Prostituierten gewesen", sagt sie in abschätzigem Ton. Ich studiere besagte Männer mit gravitätischem Argwohn, was sie, wie ich weiß, prüde findet, wenn nicht gar befremdlich. Bei dem weniger gutaussehenden Mann zu meiner Rechten kann ich es mir vorstellen, aber bei dem attraktiven, geschmackvoll gekleideten am Tisch daneben?

      Als sie aufsteht, registriert er mit etwas eindeutig Sexuellen im Blick ihre Schönheit. Das war ihr gar nicht aufgefallen, doch sie hört aufmerksam zu, als ich sie darauf anspreche. Es ist fast so, als ob freies Begehren, das nicht auf einen Bevölkerungsteil beschränkt ist, nicht ihre Welt sei. "Sie müssen die Gier des Stamms der Männer verstehen", sagt sie.

      Ich bin anderer Ansicht. Ich sehe Frauen als die sexuell Unersättlichen und wie beängstigend das für Männer sein kann, die etwas zu kompensieren haben. Ich sehe männliches Begehren nicht als etwas, das der Sonderbehandlung benötigen würde, aber ich bin auch aus Nordamerika. Die Statistiken variieren, aber in Deutschland sollen 10 bis 30 Prozent der Männer schon einmal bei Prostituierten gewesen sein. In Schweden liegt die Zahl bei 8 Prozent, Tendenz fallend. Eine Million Männer bezahlen jeden Tag in Deutschland für Sex, wovon viele jedoch Besucher aus dem Ausland sind.

      In all den Interviews, die ich in drei Ländern geführt habe, brachte niemand auch nur ein einziges Mal das Thema weibliche sexuelle Begierde zur Sprache, ganz so, als ob es auf der Welt nur männliches Verlangen gäbe. Es ist mein Job, unbequem zu sein, also war ich unbequem. Ab und zu jedoch beschlich mich das Gefühl, dass jedeR nur darauf bedacht war, dass Männer auch ja genügend sexuelle... Kekse bekämen oder irgend so etwas in der Art. Ich nehme an, Frauen brauchen keine Kekse. Sie können mit etwas anderem Essbaren vorlieb nehmen, oder aber mit einem kleinen Blattsalat. Auf die Frage wurde nicht weiter eingegangen.


      Hinter einer schmucklosen, weißen Fassade: Europas größtes Bordell

      BERLIN—Es war ein Schwindel erregender Moment, als Europas größtes Bordell meinen hartnäckigen Interviewanfragen endlich zusagte. Der Zugang zum Club Artemis in der Halenseestraße 32-36 ist leicht, wenn man ein Mann ist. Es liegt in unmittelbarer Nähe eines Bahnhofs, einer Überführung und eines Tagungszentrums, abgesehen davon, dass man hineingelassen wird. Ist man hingegen eine Frau und keine Reinigungskraft, Sachbearbeiterin oder Prostituierte, hat man Pech gehabt.

      Flatrate-Prostitution


      Der Spiegel veröffentlichte letztes Jahr ein umfassendes Dossier über die deutsche Sexindustrie, in dem der Gedanke offen Ausdruck fand, dass die Legalisierung ein Fehlschlag war und dass Ausbeutung und Menschenhandel ein solches Ausmaß annehmen, dass es eine Schande für Deutschland ist.


      Die Künstlerin JC hat in Berlin
      jahrelang als Prostituierte
      gearbeitet. Heute ist sie die PR-Frau
      von peppr.it, eine Vermittlungsbörse
      für den Sexhandel.

      Dabei hatte man 2001 große Hoffnungen in die Legalisierung gesetzt. Als das Gesetz verabschiedet wurde, spielte sich eine befremdliche Szene ab. Auf dem Parkett des Bundestags erhob SPD-Familienministerin Christine Bergmann das Sektglas, um mit der Grünen Kerstin Müller und einer Berliner Bordellbetreiberin namens Felicitas Weigmann anzustoßen. "Drei Frauen in Partylaune, weil Männer in Deutschland bedenkenlos in Bordelle gehen konnten", wie Der Spiegel schrieb. Und dann wurde Deutschland im Grunde zu einem einzigen Fest für ZuhälterInnen.

      Es heißt, dass es allein in Berlin 500 Bordelle gibt. Sie sind nicht als solche gekennzeichnet, aber wenn man einen Club mit auf Milchglasscheiben geritzten Ornamenten sieht, vor dem ein Geldautomat steht, weiß man, dass man am Ziel ist.


      Viele sind direkt an der Grenze aus dem Boden geschossen, wodurch Männer aus ganz Europa die offenen Grenzregulierungen der EU nutzen und für schnellen After-Work-Sex einen Abstecher nach Deutschland machen können. Die Feedback-Seiten von Bordellen zu lesen ist keine angenehme Angelegenheit, besser, ich erledige sie als Sie, aber dort erfährt man wenigstens, was diese Männer denken. Sie denken, dass junge Frauen aus bitterarmen rumänischen Dörfern Spaß an ihrer Arbeit haben und sie sexuell unwiderstehlich finden.

      Und dann war da diese Werbung anlässlich der Eröffnung des Pussy Club in Stuttgart 2009: "Sex mit allen Frauen so lange du willst, so oft du willst und wie du willst. Sex. Analsex. Oralsex natur. 3er. Gruppensex. Gangbang." Die Preise rangierten von 70 bis 100 Euro.

      Laut Spiegel berichtete die Polizei von 1.700 Kunden und 700 Männern hätten Schlange gestanden. "In Internetforen tauschten sich die Kunden anschließend über den angeblich unzureichenden Service aus: Die Frauen seien nach ein paar Stunden nur noch bedingt einsatzfähig gewesen."

      Flatrate-Prostitution? All dies entstand in einem ordentlichen Land, das seine Sexhandelsgesetze aus einem sonderbaren Idealismus heraus reformiert hat, etwas in der Art "Sex ist gut und Geld ist gut, bringen wir also beides zusammen, das kann doch nicht schiefgehen" und wer das kritisch sieht, ist prüde.

      Poppenreiters PR-Frau für peppr.it, JC, hat jahrelang in Berlin als Prostituierte gearbeitet. Die kluge Frau, die mir als etwas zu sensibel für eine Branche vorkam, in der es rau zugeht, versuchte mir zu erklären, warum sie diese Arbeit gut findet. Doch ich war skeptisch.

      Zufällig unterhielten wir uns über Die Welt von Gestern, das autobiographische Werk des Wiener Schriftstellers Stefan Zweig, der John Grisham/Alexander McCall Smith seiner Epoche – er beging 1942 in Brasilien Selbstmord, nachdem er vor den Nazis geflohen war –, an das ich mich wegen seiner tiefen Sympathie erinnere, die es den vielen Prostituierten des Wien zur Jahrhundertwende entgegenbrachte. Er schrieb über ihr Leben in der Prostitution. Diese "stellte gewissermaßen das dunkle Kellergewölbe dar, über dem sich mit makellos blendender Fassade der Prunkbau der bürgerlichen Fassade erhob".

      "Peppr wird dafür sorgen, dass es den Frauen besser geht als zu Stefan Zweigs Zeiten", wie mir da JC sagte.

      Dies erschien mir als beängstigend wenig ehrgeizig für die Frauenrechte im Westen und erinnert eigentlich eher an Afghanistan. So übel schien es in Deutschland also um die Dinge bestellt zu sein. Zweig wurde 1881 geboren.

      Wir unterhielten uns über das Club Artemis, angeblich Europas größtes Bordell, das am Stadtrand liegt. Sie findet es nicht gut, denn im Bordell tätige Frauen seien kompetitiv und würden sich gegenseitig unter Druck setzen, Sex ohne Kondom zu akzeptieren. Sie beschrieb mir eine Art sexuelles Internat – ich werde immer schaudernd an den lautlosen Schlafsaal im Obergeschoss mit all den schlafenden Frauen denken müssen –, in dem sich die Frauen an ihre Landsfrauen klammern, an kleine Grüppchen von Rumäninnen, Türkinnen, Französinnen und Italienerinnen. "Jede Nation kommt her", sagt sie.

      Ich habe vor zwei Monaten eine E-Mail von einer Leserin erhalten, die mir nicht aus dem Kopf ging. Sie hatte bereits mehrere unbezahlte Praktika absolviert, zu denen sie anmerkte, dass sie immerzu eine glückliche Mine aufsetzen musste, so, als sei sie wahnsinnig begeistert, überhaupt an einem Arbeitsplatz zu sein. Sie spürte, dass man nicht umhin kam, "ein Gesicht vorzubereiten, um die Gesichter zu treffen, die man trifft", wie es T.S. Eliot seinem Prufrock in den Mund legte. Das tun wir alle, doch niemand muss es mehr vortäuschen als eine Prostituierte.

      Es war schlimm genug, dass die fast völlig nackte junge Frau im Artemis eine glückliche Maske für ihre Kunden aufsetzen musste, sagte ich, aber dass sie dies auch für mich tun musste, bedrückte mich.

      JC widersprach heftig. "NEIN. Das war kein falsches Lächeln. Sie hat sich riesig gefreut, dass Sie sie als Mensch wahrgenommen haben. Wahrscheinlich ist sie in ihr Zimmer gegangen und hat allen gesagt, dass unten eine Frau nett zu ihr war."

      Das deprimierte mich vollends.





      Die Niederlande

      Die Historikerin und ehemalige Prostituierte Mariska Majoor organisiert von einem kleinen, perfekten "Museum" hinter der Oude Kerk Besichtigungstouren durch den Rotlichtbezirk. Die Wände sind mit Retrofotos des alten Amsterdam bedeckt, überall stehen Puppen in roter Montur und Samtdrapierung, ein mit Apfelkuchen beladener Tisch steht auch da. Das Prostitutie Informatie Centrum oder kurz PIC ("reimt sich auf 'Dick'", wie sie mir vergnügt mitteilte) hat Charme.


      Die Dokumentarfilmerin Gabrielle Provaas
      in Amsterdam in der Straße, in der "Barbara"
      in einem Sexschaufenster arbeitet.

      Der Bezirk gentrifiziert sich und wird, wie ich denke, in einem Jahrzehnt verschwunden sein. Amsterdam ist tolerant, doch man spürt, dass es dessen überdrüssig wird.

      Majoor arbeitete im Alter von 16 bis 21 Jahren als Prostituierte. Weshalb hatte sie damit begonnen? Diese Frage wird Prostituierten von jedem gestellt, sagt Moran. Ich hatte automatisch gefragt, weil ich eigentlich nicht wissen will, warum jemand anfängt, sondern weitermacht.

      Die Antwort auf diese Frage lautet natürlich "Des Geldes wegen". Majoor wollte einen deutschen Schäferhund kaufen. "Ich fühlte mich einsam und es war mein Mädchentraum. Ich wollte einen großen Jeep fahren. Ich bat eine Sexarbeiterin um Rat und hatte an dem Tag zwei Kunden, an meinem ersten Tag."

      Sie hatte nicht ein Leben hinter sich, das sie vor lauter Traumata regelrecht erstarren ließ, wie es Moran beschreibt, sondern stammt aus einer "ordentlichen und spießigen" Familie, kam nicht mit ihren Eltern zurecht und ohnehin hätten "Sexarbeiterinnen etwas Rebellisches".

      Sie erzählte mir von den Waschgelegenheiten in den kleinen Zimmern, die an die Sexschaufenster der Stadt grenzen. "Ich wusch seinen Penis gründlich mit einer seifigen Massage", was die Kunden schon einmal in Fahrt brachte. Wenn es etwas gibt, das eine Prostituierte will, dann den Job so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Sie habe immer saubere Laken gehabt, auf denen ein Handtuch lag. ("Man kann es umdrehen, aber das habe ich nicht gesagt.")

      Das stimmt mich immer noch nicht zuversichtlich angesichts dessen, was Straßenprostituierte tun, die Männer in Autos bedienen: sie harren aus, was sie ausharren müssen und gehen in ein geistiges Exil, in dem es geringfügig weniger verstörend zugeht. Moran schreibt im Detail über Hygiene, Scham und Schock. Das hat keine andere Prostituierte zur Sprache gebracht.

      Und dann wäre da Meet the Fokkens, ein grandioser Dokumentarfilm von Rob Schröder und Gabrielle Provaas über 69jährige, eineiige Zwillinge, die mehr als 50 Jahre lang in Amsterdam als Prostituierte gearbeitet haben.

      Schröder und Provaas haben 17 Jahre zusammengearbeitet und sprechen wie Tischtennisspieler miteinander. Über einen Tisch in ihrem Studio werfen sie sich Bemerkungen zu und albern herum. Ihr Studio liegt in einer winzigen Amsterdamer Straße, in der Martine Fokken jahrelang hinter einem Fenster nebenan gearbeitet hat. "Manche Männer kommen nicht anders an Sex ran", sagt Provaas. "Männer, die (eine geistige Behinderung haben) oder die einen sehr niedrigen IQ haben und in Wohngruppen leben, einsame Männer, Witwer, Männer, die keine Lust auf die Scherereien der Ehe haben und verheiratete Männer, die einfach nur Sex wollen."

      Man "erkennt" sie, sagt Majoor, ihre Körpersprache verrät, ob sie Machos sind ("Machos mag ich nicht"), schüchtern, nett oder arrogant. Ich selbst habe ein paar großspurige Männer im Anzug gesehen, hauptsächlich aber Halbstarke mit Basecaps auf dem Kopf.

      Schröder glaubt, Männer sollten die Möglichkeit haben, Sex zu kaufen, während sich Provaas eher um Grausamkeit und Ausbeutung Gedanken macht. Praktisch veranlagt sind sie dabei beide. "Russland und Europa können sie nur überleben, wenn sie ihre Körper benutzen", sagt Provaas. "Im Nahen Osten gibt es viel Prostitution, vielleicht sogar noch mehr als hier. Sie kommen hauptsächlich aus Marokko und sind sehr taffe Frauen. In Dubai kann man sie alle sehen, wie sie am Morgen die Häuser von Männern verlassen."

      "Seien Sie keine fundamentalistische Moralistin", sagt Schröder zu mir. "Eine große Gruppe an Männern geht ja nicht, bestimmt 60 Prozent."

      "Wollen Sie damit sagen, dass 40 Prozent der Männer Prostituierte kaufen?" Ich kann es nicht fassen.

      Provaas schildert mir, dass sie ihren Dokumentarfilm gedreht hätten, als seien sie wilden Tieren auf der Spur gewesen und wilde Tiere tun eben solche Dinge. Ich denke nicht, dass Menschen wilde Tiere sind, schließlich urinieren sie auch nicht auf die Straße. Später allerdings sehe ich Männer, die auf die Straße pinkeln.

      Amsterdam: die Sicht aus einem Sexschaufenster



      Die Sexschaufenster Amsterdams beherbergen winzige
      Puppenstubenzimmer für Sex und Körperhygiene.

      AMSTERDAM—Wie auf eine Schnur gefädelt, laufen eigentümlich aussehende Männer auf den Pflastersteinen entlang, wobei sie die Prostituierten in den großen, viereckigen Sexschaufenstern von Amsterdams Rotlichtbezirk begutachten. Auch die Frauen sehen recht eigentümlich aus, um ehrlich zu sein. Prostituierte sind ebenso Menschen wie ihre Kunden. Sie sind dick, dürr, alt, atemberaubend, furchteinflößend, skelettartig, schwarz, weiß, jeder Typus ist vertreten.

      Schweden


      Ein bestimmter Typ Mensch hat Schweden schon immer verabscheut und überhaupt alles, was auch nur entfernt skandinavisch ist. Dwight Eisenhower sagte 1960 in einer Rede, Schwedens sozialistische Grundsätze brächten "Sünde, Nacktheit, Trunkenheit und Selbstmord" hervor, was die Ente entstehen ließ, Selbstmord sei ein schwedisches Hobby. Das ist schlichtweg falsch.


      Magdalena Wikstrand Danelius, links, und Elin Kallberg arbeiten
      als Rechtsberaterinnen für Schwedens Justizministerium.
      Ein Gutachten von 2010 hat gezeigt, dass infolge der schwedischen
      Gesetzgebung die Straßenprostitution um die Hälfte zurückgegangen
      ist und dass es "keine Belege" dafür gibt, dass über das Internet
      beworbene Prostitution stärker gestiegen ist als in anderen Ländern.
      "Kriminelle Banden betrachten Schweden inzwischen als schwachen
      Markt", wie Kallberg berichtet.



      Tatsache ist, dass die nordischen Länder Vertretern des Lagers rechts der politischen Mitte in die Krone fahren. Das könnte daran liegen, dass sie wirtschaftlichen Erfolg mit Mitgefühl und einem Idealismus in Einklang bringen, der sogar funktioniert, wenn auch, natürlich, unvollkommen. Ich vermute insgeheim, dass die Schweden manchen auf die Nerven gehen, weil sie so erschreckend gut aussehen – groß, blond, todschick und mit einem Talent für kunstvoll zerzauste Haare –, wobei sie nicht so reich wie die Norweger und nicht so überirdisch attraktiv wie die Dänen sind.

      Als ich in Skandinavien war, gab es Momente, in denen ich keine Lust hatte, mein Hotelzimmer zu verlassen.

      Worauf ich hinaus will ist, dass eine gewisse Missgunst vorhanden ist, wenn es um Schweden geht, das 1999 im Rahmen einer landesweiten, jahrzehntelangen Suche nach "Gleichstellung der Geschlechter" den Kauf von Prostitution kriminalisiert hat, eine Suche, die die Unterstützung sowohl der Linken als auch der Konservativen gewonnen hat. In welchem anderen Land ist sich jeder über einen elementaren Anstand einig?

      Wenn die Schweden sagen, dass sie die Gleichberechtigung der Frauen wollen, dann meinen sie das auch. Schwedens Gesetz über den Sexerwerb, das den Kauf sexueller Dienstleistungen zu einem Vergehen machte, wurde 1999 unter der sozialdemokratischen Regierung verabschiedet und 2006 von der Regierung der Liberalen Allianz verbessert. Es gab den Ton für die europäische Zukunft an. Es ging nicht allein darum, dass keine Frauen die Benutzung ihrer Körper auf wahrhaft freiwillige Weise verkaufen, wie schwedische, feministische Entscheidungsträger der Politik sagten, sondern darum, dass Prostitution alle Frauen herabwürdigt. Im Allgemeinen wie im Besonderen sei sie verheerend, einschließlich für Jungen und Mädchen, die sie wahrnehmen und denen die Vorstellung vermittelt wird, dass Frauen weniger wert sind.

      Mit Magdalena Wikstrand Danelius und Elin Kallberg, Rechtsberaterinnen im Justizministerium, unterhielt ich mich über die Denkweise, die dahinter steht. Ich würde sie als massiv vernunftorientierte Menschen bezeichnen.

      "Schnell ging es nicht", wie Danelius mir sagte. Die Leute fingen erstmals in den späten 70ern an, sich über das Thema Gedanken zu machen, worauf eine Debatte folgte, die viele Jahre anhielt. Heute werden die Kunden mit einem Bußgeld belegt und können Haftstrafen erhalten, bislang kam jedoch noch kein Mann für Sexkauf allein ins Gefängnis. Was die Frauen betrifft, so "würden wir sie nie noch mehr bestrafen", so Kallberg, "denn bestraften Menschen steht nicht der Sinn danach, Hilfe aufzusuchen. Außerdem gibt es eine starke Zusammenarbeit zwischen Polizei und sozialen Diensten."

      Ein Gutachten von 2010 hat gezeigt, dass die Straßenprostitution um die Hälfte zurückgegangen ist und dass es "keine Belege" dafür gibt, dass über das Internet beworbene Prostitution stärker angestiegen ist als in anderen Ländern. Schweden überprüft regelmäßig die Auswirkungen des Gesetzes, was viele Länder nicht tun. So wird es auch nächstes Jahr wieder einen Bericht geben.

      Das Beste ist, so Kallberg – und auf einem Kontinent mit durch die EU mandatierte, durchlässige Grenzen bedeutet das eine Menge –, dass Schweden ein No-Go ist. "Kriminelle Banden betrachten Schweden inzwischen als schwachen Markt", ganz im Gegensatz zu Deutschland, das ein regelrechtes Leuchtfeuer ist.

      Sie erklären mir, wie die Bußgelder verteilt werden. Zu deren Bemessung wird die Schwere des Vergehens zu Grunde gelegt, "ob die Frauen jung waren oder aus dem Ausland kommen oder ob sie von vier Männern gleichzeitig benutzt wurden". Hinzu kommt ein Bußgeld, das sich nach dem jeweiligen Einkommen richtet, was ich schwer nachvollziehen kann. Wohlhabendere Männer zahlen ein höheres Bußgeld als Männer mit geringerem Einkommen? Aber das ändert doch nichts an dem Vergehen, gebe ich zu bedenken.

      Nein, das wäre nicht gerecht, begründen sie.

      Diese Leute sind besonnen und konsequent. Nichts bringt sie ins Wanken. Als ich die AktivistInnen erwähne, darunter eine sehr bekannte namens Petra Östergren, die mit Prostituierten gesprochen haben und sagen, dass ihnen die neue Welt nicht gefällt, reagieren sie mit einer Engelsgeduld. "Ja, es kann logisch sein, dass jene, die sich noch in der Prostitution befinden, eher negativ eingestellt sind. Reden sie mit Kajsa."

      Kajsa Wahlberg ist Kriminalkommissarin bei der Verwaltungs- und Aufsichtsbehörde der schwedischen Polizei und fungiert zudem als "Berichterstatterin", das heißt sie verfolgt nach, welche Resultate polizeiliche Maßnahmen zeitigen, im Besonderen, was Menschenhandelsverbrechen betrifft.

      "Am Anfang machten die Polizeibeamten bei internationalen Sitzungen saure Gesichter, als ich versuchte, ihnen unser Gesetz als Präventivmaßnahme in Sachen Menschenhandel nahezubringen", wie Wahlberg über die Einführung des Gesetzes erzählt. "Selbst die schwedische Polizei hatte Bedenken", da sie damals befürchtete, dass es schwer sein würde, Käufern die Tat nachzuweisen. "Aber die Männer geben es ganz einfach zu und zahlen das Bußgeld. Das Stigma lastet nun auf dem Käufer."

      Zu den Vermutungen, das Gesetz habe die Prostitution hinter verschlossene Türen getrieben, sagt sie: "Die Polizei ist nicht dumm. Wir können die Käufer und Verkäufer im Internet finden. Wir können die Nummern dieser Annoncen wählen."

      Von Sozialeinrichtungen wird berichtet, dass sie bei Prostituierten posttraumatische Belastungsstörungen beobachten. Ein Geruch, ein Geräusch oder ein Besuch an Orte der Vergangenheit können schmerzhafte Erinnerungen hervorbrechen lassen. Es ist schwierig, Arbeit zu finden. "Wie wollen Sie erklären, dass Sie 10 Jahre von der Bildfläche verschwunden waren?" Und doch gibt es nach wie vor einige Straßenprostituierte.

      "Wir wollen uns nicht einmischen, wenn eine Frau nicht auf uns zukommen möchte", so Wahlberg, die Morans Buch gelesen hat. "Aber Straßenprostitution bringt Gewalt, Drogen, Geldwäsche und soziale Unruhen mit sich, außerdem werden Frauen und Mädchen in der jeweiligen Nachbarschaft angemacht. Es ist bezahlte Vergewaltigung."

      Und dann treffe ich mich mit Legalisierungsverfechterin Östergren zum Abendessen in einem nahezu exzessiv schwedischen Restaurant mit Namen Knut. Unter einem Kronleuchter aus Geweihen verspeisen wir Elch und Rentier.

      Östergren, eine Akademikerin mit einem Abschluss in Anthropologie, bringt die Dinge gern in Aufruhr, wenigstens war das in der Vergangenheit so. Sie war eine feministische Selbstverteidigungstrainerin, deren Mutter von einem Mann ermordet worden ist, mit dem sie, die Mutter, eine kurze Beziehung gehabt hatte. Doch sie stellte den Glauben in Frage, dass eine Ächtung der Prostitution dieser ein Ende setzen kann oder dass dies notwendigerweise wünschenswert sei, wenn Frauen es doch selbst wollen.

      Ihr Leben explodierte. "Von einer Prominenten wurde ich zur Paria", sagte sie mir. "Allein dadurch, dass ich die Dinge in Frage stellte, überrollte mich eine Welle des Hasses." Östergren erläutert, dass das Leben komplizierter ist, als das Gesetz denkt. "Manche Leute ziehen es vor, außerhalb des Systems zu leben. Die Prostitution verschafft ihnen eine Möglichkeit, ohne soziales oder kulturelles oder finanzielles Kapital zu überleben." Aber warum? Ist es nicht besser, eine Computerausbildung zu machen? "Vielleicht wollen sie das nicht." Nun, dann sollen sie nicht.

      Im Internet zitiert Östergren Prostituierte. "Alle erwähnen das Stigma … wo SexarbeiterInnen als schwach, schmutzig, geisteskrank, drogen- und alkoholsüchtig gesehen und als Opfer betrachtet werden … Mehrere geben an, dass sie ein wichtiger Teil der Gesellschaft sind, dass sie einen Beitrag zu ihr leisten, aber aktiv von ihr ausgeschlossen werden."

      Aber so sehe ich es nicht. Sie sind doch gewiss Opfer und selbst, wenn sie das nicht denken, werden sie in die Gesellschaft eingeladen, indem ihnen Unterstützung und Ausbildungsmöglichkeiten angeboten werden.

      Wenn sie die nicht wollen, dann ist das ihre Entscheidung und sie haben das Gefühl, unbeliebt zu sein, wenn auch nicht so unbeliebt wie ein Käufer, der nun über einen Eintrag im Strafregister verfügt. Es ist, als würde sie ein anderes Schweden beschreiben, ein Schweden, das nicht vernunftorientiert und idealistisch ist. Sie mag Neuseeland, weil es die Prostitution einschließlich Bordellen legalisiert hat. "Neuseeland ist pragmatisch fortschrittlich. Schweden ist utopisch fortschrittlich."

      Ihre Einstellung von Prostitution kommt mir jedoch utopischer vor als die Einstellung derer, die dagegen sind.



      Der Ton verschärft sich

       

      Die größte Lektion, die ich gelernt habe, war folgende: Nicht alle Prostituierten sind gleich. So wie überall sonst im Leben gibt es auch innerhalb der Prostitution ein Klassensystem. Der Gerichtsbeschluss richtete sich nicht unbedingt an jene an der Spitze der Wirtschaftspyramide. Wenn die konservative Regierung ihr Gesetz vorlegt, wird sich die Debatte um Sex drehen, was verständlich ist, nur schwebt ein riesiges, geisterhaftes Dollarzeichen darüber und die Leute könnten versäumen, nach oben zu blicken und es zu sehen.

      Die meisten, mit denen ich gesprochen habe, waren Frauen, was etwas Neues ist, doch gleichzeitig melden sich Männer bei diesem Thema nicht gerade häufig zu Wort. Dies entspricht einer der Kuriositäten, die ich über diese riesige, stillschweigende Industrie entdeckt habe: der Umstand, dass diese nachfragegesteuert (männlich) ist, sich aber alles um das Angebot (weiblich) dreht.

      Ja, es handelt sich hierbei um die Trickle-down-Theorie in Aktion. Sie wird nahezu ausschließlich von männlichem Begehren vorangetrieben, aber unnachgiebige Feministinnen agieren als ihre stärksten Steigbügelhalterinnen. LegalisierungsbefürworterInnen und AbolitionistInnen machen sich oft das Leben zur Hölle.

      "Das waren ein paar harte Wochen", sagt Poppenreiter über die Markteinführung ihrer App. "Normalerweise lese ich keine Kommentare, aber..."

      "Wir bekriegen uns gegenseitig", wie mir Majoor in Amsterdam sagte. "Ich finde das wirklich furchtbar."

      Jeder will im größten Team sein, auf der Gewinnerseite. Frauen gehen nicht immer freundlich miteinander um. Wir sind eben nicht alle gleich.




      Kanada muss sich entscheiden

      Ich glaube, dass das Nordische Modell das beste für Kanada ist, nicht nur, weil ich mich auf dem Parkplatz eines Berliner Bordells unwohl gefühlt habe – das tue ich nach wie vor, sobald ich daran denke –, sondern weil ich mich danach gesehnt habe, in ein Land zurückzukehren, das findet, dass sich Menschen nicht massiv für Geld entwürdigen müssen sollten. Auf dem Flughafen Toronto-Pearson hätte ich den Boden küssen können, und das hört man nicht oft.

      Ich mag den journalistischen Grundsatz nicht besonders, Menschen bei ihrem Nachnamen zu nennen, da ich mich vielen der EuropäerInnen, mit denen ich persönlich oder online über dieses Thema sprach, auf Anhieb verbunden gefühlt habe. Ich sende Elin, Magdalena, Petra und Kajsa meinen Dank, außerdem Rob, Gabrielle, Mariska, Barbara und Rachel, Pia, Juliana, Hanan, Katharina sowie der jungen Frau, die mich angelächelt hat und die einen schweren Prostitutionstag vor sich hatte.

      Die internen Kämpfe unter Befürwortern und Gegnern bringen mich zur Verzweiflung. Sollten wir nicht darüber nachdenken, was andere Frauen durchmachen? Sollten wir nicht über die Welt nachdenken, in der unsere Kinder leben werden, wenn wir das zulassen?

      Moran schrieb mir Folgendes: "Es ist eine gewisse Selbstsucht damit verbunden, wenn man in Sachen Prostitution prinzipiell keine Gegenstimmen zulässt, nur weil man im eigenen Leben keinen Ausweg daraus erkennen kann. Dieser Egoismus rührt daher, dass man die Situation nur aus der Perspektive der eigenen Person erfasst und die Mehrheit der anderen gänzlich ausklammert, die dringend einen Ausweg brauchen, sowohl in der eigenen Generation als auch in all denen, die auf diese folgen werden."

      Ich verstehe das wirtschaftliche Argument und in Zeiten der Ungleichheit weiß ich, dass ehrgeizige Menschen Besseres tun können, als bei McDonald's zu arbeiten, aber ganz ehrlich, ist es besser, Fleisch zu kaufen oder das Fleisch zu sein? Niemand sollte sich in diese Zwickmühle getrieben fühlen. Prostitution hinzunehmen ist weder gut für uns noch für Prostituierte. Darin gibt es keine Zukunft und die Gegenwart ist beängstigend.

      Ein kleiner Hinweis: es ist das bequemste aller Klischees, dass Prostitution der älteste Beruf der Welt sei und uns immer umgeben wird. Das ist Nonsens. Diebstahl ist älter, er hat uns immer umgeben und nichts macht uns so wütend wie Diebstahl. Siehe Banker.

      Prostitution ist etwas anderes.

      Sex ist der Moment unserer größten Verletzlichkeit. Wir sind nackte, gegabelte Wesen und wir tun Dinge an der Gabelung. Wir entkleiden uns und zeigen uns einander, verloren im Augenblick, hoffend, dass wir nicht verspottet werden. Wir küssen.

      Prostituierte küssen im Allgemeinen nicht. Die meisten Frauen setzen eine bestimmte Grenze, die sie, wenn sie arbeiten, nicht überschreiten. Sie dehumanisieren sich in gewisser Weise, um sich von dem zu distanzieren, was mit ihnen getan wird. Würden sie dies nicht tun, dann könnten sie nicht überleben. Es wäre zu roh. Es wäre zu sehr wie echter Sex, Gabel an Gabel.

      Wir alle gestalten einen Rahmen dessen um uns herum, was natürlich und angenehm für uns ist, unabhängig davon, was es auch sei. Die Prostitution stößt Frauen aus diesem Rahmen aus. Sie müssen mental ausweichen, so, wie es Kinder tun, die sexuell missbraucht werden und irgendwo unter der Zimmerdecke schweben und sich einreden, dass das alles jemand anderem passiert. Und dann wäre da noch der Rahmen des Kunden, ein Zerrspiegel, der Amsterdamer Sexschaufenster abbildet.

      Mir gefällt der verzerrende Rahmen der Prostitution ganz und gar nicht. Wenn das allzu idealistisch wirkt, dann ist es das vielleicht auch. Dürfte ich vorschlagen, dass wir in diesem Moment der Geschichte mit ein bisschen Idealismus gut beraten wären?

      Lassen Sie uns darüber nachdenken, was Kanada dieses Jahr für Prostituierte tun wird. Denken Sie an Mitgefühl und stellen Sie sich Frauen vor, die sich in Extremsituationen befinden, die dringend Geld, Essen, Drogen brauchen und was sie tun würden, um diese Dinge zu bekommen. Denken Sie an Töchter und auch an Söhne und an das Kanada, in dem wir wollen, das sie leben.

      So ist es, a), b), c) oder d), entscheiden Sie sich.

      Ich sage a), ein fundamentaler Ausdruck der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Prostitution ist menschenunwürdig und verheerend. Wir sollten danach streben, sie zu beenden, selbst wenn sich herausstellt, dass dies nicht hundertprozentig möglich ist.

      Kanada kann mehr.

      (MH)

      Die Bilder wurden uns von der Redaktion des Toronto Star zur Verfügung gestellt.

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