Sonntag, 27. April 2014

Von Menschenhandel, Marxismus und der Prostitutionsdebatte

Wiki-prostitute
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Linkssein, das bedeutet sich gegen Ungerechtigkeit, gegen Unterdrückung, gegen Gewalt und Ausbeutung einsetzen, das bedeutet, auf Widersprüche aufmerksam machen, laut und unbequem sein, wo andere wegsehen wollen, sich auflehnen, gegen mächtige Interessen und Rückhalt finden in einer kleinen, aber starken Gemeinschaft aus Solidarität und gemeinsamen Werten. Warum scheitert diese Wertegemeinschaft so vollständig, wenn es um die Kritik am System Prostitution geht?

Vom Linkssein und der Prostitution


Vor kurzem traf ich einen früheren Lehrer von mir in der S-Bahn, ader sich milde lächelnd zu mir rüber beugte und mich mit ein paar Anekdoten daran erinnerte, was für ein rebellischer Teenager ich war. Als er mich fragte, was ich heute so treibe, konnte ich ihm mit mehr als 15 Jahren linker Politik antworten. Ich erzählte ihm von diesem Blog, vom Feminismus, von der Ungerechtigkeit der Welt und das man da ja nicht stillhalten kann. Er selbst, ein alter 68er, zwinkerte mir zu und ich las darin den sanften Stolz von jemandem, der wusste, dass er irgendwie ja auch seinen Anteil daran hat, dass ich diesen Weg beschritten habe und noch immer beschreite. Ich wusste, ganz gleich welches Thema wir nun ansprechen würden – wir wären uns in den prinzipiellen Dingen einig. Der Nationalsozialismus, die Rechten, die Freiheit, die Kritik am Krieg, an Ungerechtigkeit, am Abbau des Sozialstaats, an der Unterdrückung der Frau. Das ist der linke Diskurs, in dem ich aufgewachsen bin, in dem ich mich sicher und zu Hause fühle und egal in welche Stadt ich komme, ich kann ich darauf verlassen, diese Werte mit anderen Menschen zu teilen. Das nennt man Solidarität. Ein gewichtiges Wort. Ihre Grenzen lernt man im Persönlichen auch schnell kennen, aber so als Prinzip ist sie von Bedeutung. Keine Gewalt, kein Machismo, keine Diskriminierung. Doch dann machte ich Ende des vergangenen Jahres eine geradezu erstaunliche Erfahrung, die sich bis heute fortsetzt. Ich habe gelernt, meinen Kopf zum Denken einzusetzen. Zum Analysieren. Und als ich die Kritik am System der Prostitution kennenlernte, leuchtete sie mir ein. Ich las, Berichte von ehemaligen Prostituierten, ich sprach mit aktiven Prostituierten, las mich ein in wissenschaftliche Studien, Abhandlungen, Texte, Dokumentationen, alles, was ich bekommen konnte. Und ich entschied, Prostitution abzulehnen. Als Mensch, als Linke, als Feministin. Und auf einmal war ich keine gute Linke mehr. Als ich meinen ersten prostitutionskritischen Text auf diesem Blog veröffentlichte, erhielten meine männlichen Bloggerkollegen wütende Zuschriften von ranghohen linken Politikern, die sie darauf hinwiesen, dass wir der einzige linke Blog seien, der gegen Prostitution sei. Richtig. Weil Prostitution falsch ist.


“Es gibt kein richtiges Leben im falschen"

 

Adornos vielzitierter Satz aus der Minima Moralia trifft auch auf die Prostitution zu. Man kann Prostitution nicht korrigieren, indem man sie legalisiert, auch wenn es das ist, was die Lobbyvertreter wollen, am liebsten sähen sie sie ganz dem Gewerberecht unterstellt und vollkommen jeder polizeilichen Kontrolle entzogen. Prostitution ist falsch, denn Prostitution zementiert die Ausbeutung und Unterdrückung der Ärmsten und Rechtlosen. Es sind Armutsmigranten, die Heimkinder, die Traumatisierten, die, die ökonomisch ohnehin keine Chance haben, die sich prostituieren. Sie werden durch Prostitution nicht reich, sie überleben, wenn sie Glück haben, gerade so davon oder kommen sie schwerkrank mit dem Leben davon. Viele von ihnen werden mehrfach während der Ausübung der Prostitution vergewaltigt. Den Profit ihrer Arbeit schöpfen Laufhausbesitzer, Großbordellbesitzer, Menschenhändler, Pornoproduzenten und Zuhälter ab. Legale Prostitution führt erwiesenermaßen dazu, dass der Menschenhandel zunimmt, wie eine europaweite Studie des Berliner Institute for Economic Research (DIW Berlin) belegen konnte, sie ist der Deckmantel, den Menschenhändler brauchen, um ihrem Geschäft nachgehen zu können. Menschenhandel und Prostitution gehören untrennbar zusammen, auch wenn sie nicht identisch sind. Legale Prostitution schafft die Nachfrage, die der Menschenhandel befriedigt. Und es ist ein einträgliches Geschäft mit dreistelliger Milliardenhöhe weltweit, rücksichtslos, grausam. Frauen, Kinder werden zu Waren, die sich wieder und wieder verkaufen lassen, an denen sich immer neue Gruppen und Banden bereichern, es geht nicht ohne die Korruption von Politik und Beamten. Die Routen des Menschenhandels führen vor allem von Osteuropa nach Deutschland, aber auch von Nigeria. Schätzungen zu Folge  werden alleine in Europa jedes Jahr 270.000 Menschen Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, 10.000 davon in Deutschland. Davon sind laut Angaben von SOLWODI fast 2/3 Roma, die in ihren Herkunftsländern Diskriminierung und Armut ausgesetzt sind. Dass die Zahlen der Verurteilungen von Menschenhandel in Deutschland rückläufig sind, hat etwas damit zu tun, dass das Prostitutionsgesetz den Zugriff der Polizei auf diese Mädchen fast unmöglich gemacht hat. Darüber hinaus ist die Aussage der Frauen für eine Verurteilung unerlässlich, dazu sind die wenigsten aus Angst bereit. Sie sind mit Prügel und Vergewaltigung gefügig gemacht worden. Die Initiationsvergewaltigung ist keine reines Brutalisierungsvergnügen, sie dient dazu, das Opfer seelisch zu brechen, damit es für die Arbeit in den Bordellen gefügig ist, das Selbst so lange zu verletzen, bis es alle Gegenwehr aufgibt. Die Menschenhändler haben Fotos der Kinder, sie drohen damit, ihnen etwas anzutun. Die Frauen haben darüber hinaus fast sofort nach ihrer Aussage mit der Abschiebung zu rechnen. Viele von den Opfern sind minderjährig. Sie haben Krieg, Armut, Diskriminierung und Gewalt erlebt, sie sind rechtlose Flüchtlinge.
Die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Lydia Cacho untersuchte über mehrere Jahre die Wege des Menschenhandels über die ganze Welt. Die Türkei zeigte sich dabei das “goldene Dreieck des Menschenhandels” aus Osteuropa, doch ihre Recherchen deckten auch auf, dass zum Beispiel palästinensische Mädchen besonders vom Mädchenhandel betroffen sind. Sie folgte den Routen des Menschenhandels von der Türkei über Kambodscha, Japan, Birma, Mexiko, Argentinien.  Kommen ihre Fälle ans Tageslicht, werden sie gezwungen, ihre Peiniger zu heiraten. Cacho wurde für ihre Arbeit bedroht und schließlich sogar entführt und gefoltert.
"Der Menschenhandel, der in 175 Ländern der Erde dokumentiert ist, legt die Schwächen des globalisierten Kapitalismuus ebenso bloß wie die Ungleichheiten, die durch die wirtschaftlichen Spielregeln der Mächtigen entstehen. Vor allem aber zeigt er eindrucksvoll, inwieiweit sich die menschliche Grausamkeit inzwischen in der Kultur festgesetzt hat und als normal angesehen wird. Jedes Jahr werden weltweit rund 1,4 Millionen, überwiegend Frauen und Mädchen in die Sexsklaverei gewzungen. Sie werden gekauft, verkauft, und weiterverkauft wie Rohstoffe in der Industrie, wie Trophäen, wie Opfergaben oder wie gesellschaftlicher Müll."1
Nun wird gerade von der Sexarbeiterlobby immer wieder betont, Zwangsprostitution und Menschenhandel seien ja jetzt auch in Deutschland verboten und etwas anderes als die freiwillige Entscheidung zur Prostitution und davon wolle man sich abgrenzen. Aber so einfach ist das nicht. Erstens gibt es den oben beschriebenen eindeutigen Zusammenhang von legaler Prostitution und dem Anstieg von Menschenhandel. Tatsächlich kann der Bedarf an “Menschenmaterial” gar nicht über legale Prostitution gedeckt werden, es müssen Frauen zwangsweise zugeführt werden. Darüber hinaus wirft nur der illegale Waffenhandel so üppigen Profit ab wie der Menschenhandel – und hat dann noch einen solchen Wiederverkaufsvert und ist so schwer nachzuweisen. Es ist ein einträgliches, florierendes Geschäft mit der Angst, mit fremden Körpern, mitten in Europa, mitten unter uns. Hinzu kommt, dass die Nachfrage nach legaler Prostitution doch den Markt für den Menschenhandel erst schafft. Schweden, mit seinem Modell der Freierbestrafung, hat laut der Studie von DIW Berlin die niedrigste Rate von Menschenhandel. Warum?
"Die Situation ist eine ganz einfache: Ohne Nachfrage gäbe es keine Prostitution. Die Prostitution hat nichts mit der weiblichen Sexualität zu tun, sie ist eine rein männliche Erfindung. Wenn die Männer in aller Welt keinen käuflichen Sex nachfragen würden, dann würden nicht Millionen von Frauen und Mädchen verschleppt, misshandelt und unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten."2

Absurditäten einer fehlgeleiteten Debatte


Der gezeigte Zusammenhang von Menschenhandel und Prostitution macht deutlich, warum Prostitution als Institution als menschenverachtend, als verbrecherisch, ungerecht und grausam abzulehnen ist. Eigentlich eine klare Sache für Linke. Auch die marxistische Kritik daran ist ganz einfach: Hier wird Profit gemacht mit Menschenkörpern, mit Armut, hier werden Menschen verkauft, nicht Sex. Doch genau das will die ProProstitutionslobby so unbedingt trennen. Dass es freiwillige Prostitution gibt, selbstbestimmte Sexarbeiterinnen. Zunächst – und es gehört zu den Absurditäten dieser Debatte, dass man, wenn man die Unmenschlichkeit des Systems Prostitution kritisiert, immer erklären muss, dass man die, die Prostitution ausüben, nicht damit diskriminiert, sondern sich im Gegenteil mit ihnen solidarisiert – spielt das überhaupt keine Rolle. Solange es einen wie auch immer angesetzten Prozentsatz an Frauen gibt, die durch das System Prostitution, durch den bl0ßen Fakt, dass es existiert und legal ist, in die Situation kommen, verkauft, vergewaltigt und missbraucht zu werden, dann läuft da etwas schief und zwar nicht mit diesen einzelnen Fällen, sondern mit dem System. Nur weil es ein paar gibt, die in Talkshows sitzen und behaupten, sie kämen super mit Hartz IV über die Runden, hält das die Linke auch nicht ab, Hartz IV zu kritisieren. Darüber hinaus – und hier setzt nun die tatsächlich marxistische Kritk an: Auch die Frauen, die sich “freiwillig” für die Prostitution  entscheiden, treffen diese Entscheidung in den meisten Fällen aus einer absoluten finanziellen und persönlichen Notlage. Zahlreiche Studien belegen den Zusammenhang aus familiärer und häuslicher Gewalt, Missbrauch in der Kindheit und der Entscheidung zur Prostitution. Hinzu kommt die blanke ökonomische Not im Wohlstandsgefälle Europas -  wie groß der Anteil der Osteuropäerinnen unter den Prostituierten in Deutschland tatsächlich ist, darüber gehen die Schätzungen auseinander, sie schwanken zwischen 75 und 90 Prozent. Es erscheint fast zynisch, wenn angesichts dieser Schicksale von selbstbestimmter “Sexarbeit” geredet wird, wenn Talkshows und Zeitungen ein Bild der “Happy Hooker” zeichnen, die sich total entspannt in der eigenen Wohnung die Freier aussuchen kann. Die Wirklichkeit sieht anders aus. In der Wirklichkeit werden die Mädchen von Flatrate-Bordell zu Gang-Bang-Party weiter gereicht, sie müssen Zimmermieten von bis zu 140 Euro am Tag oder 5000 Euro im Monat zahlen, und “Dienstleistungen” von 20 Euro für einen Verkehr machen. Viele Häuser werben damit, dass sie “AO” sind, “alles ohne”, also ohne Kondom. Die negativen Auswirkungen der Prostitution treffen also die Schwächsten, die Armen, die Entrechteten. Das klassische Klientel der Linken. Doch anstatt sich dieser Klientel anzunehmen, macht die Linke etwas Erstaunliches. Sie macht sich mit jenen gemein, die dieses System der Unterdrückung forcieren. Warum das so ist, dazu haben sich bereits andere Gedanken gemacht:
"Eine positive Bewertung der Prostitution unter dem Titel „Sexarbeit“ gilt heute als Status quo, den man nicht ungestraft unterbieten darf. Stellt man sich dem entgegen, setzt man sich vielfältiger Kritik aus. Diese reicht vom „(konservativen) Moralismus“, über die Missachtung von Marginalisierten, der Lustfeindlichkeit und sogar dem Vorwurf des Sexismus: „Wir müssen der Doppelmoral entgegentreten, die Frauen das Recht auf freie Sexualität zu verwehren sucht, während sie sie bei jungen Männern fördert. Das ist Teil des Kampfes gegen Sexismus.“
Angesichts der Vielfalt dieser schweren Geschütze ist es nicht verwunderlich, dass viele Linke, individuell und kollektiv die Fahnen strichen und die scheinbar unhaltbar gewordene klassisch marxistische Position der Ablehnung der Prostitution fluchtartig verließen.
Wir sehen darin einen weiteren Sieg der Ideologie der morschen bürgerlichen Gesellschaft über den revolutionären Marxismus. Die positive Uminterpretation gesellschaftlicher Barbarei musste die Linke in den vergangen zwei Jahrzehnte in vielen Fragen erdulden. In der Frage der „Sexarbeit“ betreibt sie die Revision des marxistischen Menschenbildes (und hier sei angemerkt, auch die Spaltungsfrage für die Überreste des radikalen Feminismus) aber sogar aktiv."3
Man kann das auch anders ausdrücken. Die Linke hat sich ihrer eigenen Positionen zur Prostitution offenbar nie selbst genug vergewissert, um Angriffen von außen standzuhalten, sie hat sich in dieser Debatte verunsichern und spalten lassen, dazu passen auch die mehr als widersprüchlichen Aussagen von Politikern der Partei DIE LINKE, die Prostitution zwar irgendwie ablehnen, aber dann doch nicht verbieten wollen, sie sind zwar irgendwie für die Frauenrechte, aber jetzt mal so richtig was machen will ja auch niemand. Die sonst als so besonders radikal verschriene Plattform Marx21 zögert nicht, auf ihrer jährlichen Konferenz MarxisMuss eine Veranstaltung mit Cheflobbyistin Johanna Weber zum Thema Prostitution anzukündigen – man darf an der Stelle vorsichtig anfragen, wie denn das marxistische Bekenntnis zur Prostitution aussieht? Auf welchem Analyseweg die jungen Genossen denn dahin gekommen sind, dass man Lobbyisten Tür und Tor weit öffnen mag? Oder haben wir in Zukunft auch Veranstaltung mit Arbeitgeberverbänden zu erwarten? Tatsächlich war, als die Prostitutiondebatte Ende letzten Jahres begann, eine reflexhafte Abwehr des linken Spektrums zu beobachten, der es jeder inhaltlichen Auseinandersetzung fehlte und die sich bis heute fortsetzt und leider darin gipfelt, sich mit der Legalisierung von Prostitution gemein zu machen. Dass man da auf einmal einer Meinung ist mit SPD und Grünen, macht niemanden stutzig? Warum fehlt es jeder inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Kritik an Prostitution, die in anderen EU-Ländern selbstverständlicher Bestandteil linker Kultur ist? Und ja, die Kritik an Prostitution kann durchaus auch eine ethische sein  – keine moralistische – denn die Linke kennt eine Menge ethische Grundsätze, denken wir mal an das Nein zum Krieg, zur Massentierhaltung usw. Es gibt auch ein Nein des Gesetzgebers, das dem Nein zur Prostitution sehr ähnlich wäre – ich kann mir nämlich die Gebärmutter einer anderen Frau auch nicht ausleihen, um mein Kind darin auszutragen. Sie kann sie mir auch nicht ausleihen gegen Geld – aber der entscheidende Punkt ist: Ich kann sie mir auch nicht leihen. Der Gesetzgeber schiebt hier einen Riegel vor, inwieweit ich mir den Körper einer anderen zu Nutzen machen kann, auch wenn ich Geld dafür anbiete, auch wenn sie sich freiwillig dafür entscheidet, weil sich an ein solches Geschäft eine Menge ethische Fragen anschließen. Gleiches gilt für die Prostitution. Es mag Frauen geben, die mit Prostitution gut umgehen, die selbstbestimmt arbeiten, die reich werden, auf die all die so bereitwillig erzählten und ständig weiter gegebenenen Mythen von Prostitution als “Sexarbeit”  zutreffen. Aber es gibt den so viel größeren Teil, die Prostitution aufgrund von Gewalt, Arbeit von Zwang, von Trauma, von Ausbeutung machen und für die ihre “Arbeit” eine tägliche, neue Traumatisierung bedeutet. Und weil es diesen sehr viel größeren Teil gibt, weil Prostitution diskriminierend, sexistisch, rassistisch und ebenso wie jeder andere Bereich auch globalisiert nach neoliberalen Gesetzmäßigkeiten durchstrukturiert ist, ist sie zu kritisieren und abzulehnen – ohne die, die unter ihr zu leiden haben, abzulehnen. Die Linke fordert schließlich auch eine Abschaffung von Leiharbeit – wirft ihr deshalb irgendjemand vor, die Leiharbeiter zu diskriminieren?

Das Trugbild der “Happy Hooker”


Wie rassistisch Prostitution ist, macht nicht nur der zuvor erwähnte große Anteil von Roma-Frauen in der deutschen Prostitution deutlich. Es sind die ohnehin europaweit diskriminierten Frauen einer diskriminierten Minderheit, die der Prostitution nachgehen, die sich nicht in der sogenannten Lobby organisieren oder in Talkshows sitzen, die den größten Teil der Prostitution abwickeln. Ihnen bleibt aufgrund europaweiten Diskriminierung als Angehörige der Roma-Minderheit keine andere Möglichkeit, als sich zu prostituieren, um sich und ihre Familien zu ernähren. Die Grenzen zwischen Zwangsprostitution und “freiwilliger” Prostitution sind hier fließend, Experten sprechen von einer Grauzone, weil die Frauen oft von ihren Angehörigen in die Prostitution gedrängt werden, um das Überleben der Familie zu sichern – doch diese Not entsteht nur deshalb, weil ihnen aufgrund der Diskriminierung jede andere Subsistenzweise verwehrt bleibt. Wenn also jemand diese Frauen zur Prostitution zwingt, dann ist es der Antiziganismus Europas, der sich so hervorragend mit den Gesetzen zur legalen Prostitution in Deutschland verbindet.
Megan Murphy zeigte zuletzt am Beispiel der indigenen Prostituierten in Kanada, wie rassistisch auch der Diskurs um “freiwillige” Sexarbeit ist – mehr als die Hälfte der Prostituierten dort hat indigene Wurzeln, wobei der Anteil der indigenen Bevölkerung in Kanada nur bei 2-4 Prozent liegt.
"Is it really “their decision to make” when we as a society have taken so much from indigenous people, forced girls and women into homes with abusers and then pushed them onto the streets, then abandoned them with few alternatives or resources, left them vulnerable to predators, and then looked away as they are murdered and go missing? Is it really fair to say, “well it’s their decision” within that context? Is it really a “safe alternative?” If we believe that, it seems we aren’t listening. [...] If prostitution were just a great “choice” women just happen to make, wouldn’t more middle class white women would be doing it? Or maybe men? Why is it that those people don’t “choose” prostitution?" 4
Megan Murphy spricht hier einen wichtigen Punkt an: Wenn Frauen aus den ärmsten Ländern Europas und der EU zu uns kommen, wenn sie Kindheiten voller Gewalt, Armut, Missbrauch, hinter sich haben, von wie viel “freiwilliger Entscheidung” kann man dann sprechen? Vor allem, wenn alles, was man ihnen hier signalisiert ist, dass man sie außerhalb der “Sexarbeit” nicht gebrauchen kann? Und ja, wenn Prostitution doch so ein toller, selbstbestimmter, hipper Job voll sexueller Erfüllung ist  – warum machen ihn dann nicht mehr Frauen aus der Mittelklasse, warum sind nicht mehr deutsche Frauen unter ihnen, gut ausgebildete, gut abgesicherte? Warum sind es die Ärmsten, die mit keinerlei Chancen auf einen anderen Job? Solange man behauptet, Sexarbeit sei freiwillig, solange hält man sich die eigentliche Debatte, nämlich wer eigentlich davon profitiert, dass Sexarbeit freiwillig und legal ist, vom Hals. Tatsächlich handelt es sich nämlich bei dem Diskurs um freiwillige Sexarbeit um einen Trick, den sich gerade der organisierte Menschenhandel zu Nutze macht, wie Lydia Cacho eindrücklich schildert:
"“Difficult choices are still choices” – auch schwere Entscheidungen sind Entscheidungen sagt die Zuhälterin,  die sich von den Mädchen in ihrem Bordell “Patin” nennen lässt. Genau von dieser Prämisse gegen auch Aktivistinnen aus, die lieber von “Sexarbeit” als von Prostitution sprechen. In einem bestimmten Moment entscheiden sich erwachsene Frauen aus freien Stücken, in die Welt der Prostitution einzutreten und dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen, so ihre Annahme. Die Mafia nutzt diese akademische Diskussion aus und mokiert sich noch darüber. Die philosophischen Argumente der Freiheit und der freien Entscheidung gehören heute zum festen Repertoire der Menschenhändler wie ich aus ihrem eigenen Mund hören konnte." 5
Die Prostitution hat ihren Ursprung in der Sklaverei, dem Inbegriff der Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen durch andere, sie ist ein Überbleibsel dieser Gesellschaftsform, die wir bereitwillig in unserer Mitte akzeptieren. Prostitutieren durften sich in der Antike nur die Unfreien, die Sklaven, sie wurden dazu gezwungen. Und wenn wir sie uns heute genau betrachten, dann trägt sie auch heute neben den Formen der Zwangsprostitution viele Züge genau dieser Ausbeutung. Die Frauen, die sich für die Prostitution entscheiden, machen dies nicht, weil sie Lust darauf haben, am Tag mit zig Männern Sex zu haben. 90 Prozent von ihnen würden sofort aussteigen, wenn sie könnten. Sie machen es, weil ihnen ökonomische Zwänge keine andere Wahl lassen, weil sie keine Aufenthaltsgenehmigung, keine Papiere, keinen Zugang zum Arbeitsmarkt oder keine Ausbildung haben. Aus dieser Not schlagen Bordell- und Laufhausbesitzer und Menschenhändler Profit, zum Teil legal, zum Teil unter der Duldung von Politik und Öffentlichkeit. Und genau diese setzen sich dann in die Talkshows und verkaufen das oben genannte Bild der “Happy Hooker”, der selbstbestimmten Sexarbeiterin, verlangen, dass man ihre “Tätigkeiten” am besten dem Gewerberecht unterstellt, damit niemand mehr kontrollieren kann, wie viele Minderjährige denn jetzt der Prostitution nachgehen, wie viele Illegale, wie viele dazu gezwungen werden.  Diese Not ist ein einträgliches, weltweites Milliardengeschäft der Schattenwirtschaft, die die legale Prostitution braucht, um sich hinter ihr zu verstecken. Etwas Besseres als die Situation in Deutschland konnte überhaupt nicht passieren. Unter ihr leiden genau die, die keine andere Wahl haben, als sich zu prostituieren, denen tatsächlich nur noch der eigene Körper bleibt, um auf dem Markt um Profit irgendwie zu überleben, weil sie nichts anderes anzubieten haben, sie besitzen keine Ausbildung, keine skills, die irgendwo an irgendeinem Arbeitsmarkt benötigt werden, lediglich ihre Körper, so lange sie jung sind, werden auf dem weltweiten Sexmarkt gebraucht, doch das Geld – und das ist doch jedem klar, der jemals irgendwann das Kapital gelesen hat -  das sie damit verdienen, streichen doch gerade in diesen vollkommen unregulierten Bereichen nicht die Prostituierten ein, sondern die, die an ihnen verdienen, und da machen die, die vielleicht wirklich frei und selbstbestimmt arbeiten und -  das bestreiten sie ja noch nicht einmal selbst – die absolute Minderheit aus, zeichnen sich aber in der Debatte als laute und lärmende Mehrheit für “Sexworkerrechte”.

Gelärme der “Sexworkerlobby”


Auch das ist kein Zufall, denn sie überdecken so die notwendige Debatte über ein strukturelles Unrecht mitten unter uns, über Minderjährige in Bordellen, über Zwangsprostituierte, über ausgebeutete Prostituierte und Angehörige diskriminierter Minderheiten und aus Herkunftsländern tiefgreifender Armut, die sich irgendwann mal “freiwillig” aufgrund absoluter Wahllosigkeit in diesen “Beruf” begegeben haben und nun nicht mehr heraus können, die keine Krankenversicherung, keine Sozialversicherung haben und auf die nur Armut und Krankheit im Alter wartet und über deren Schicksale wir achselzuckend hinwegsehen, denn – Prostitution ist legal, und wer sie ausübt – der macht das freiwillig.  Dieser Diskurs ist ebenso perfide wie erfolgreich, er macht aus Betroffenen Verantwortliche, er sieht über die Schicksale, die hinter dieser “Freiwilligkeit” stehen, einfach hinweg, und wer darauf aufmerksam macht, der wird noch der “Respektlosigkeit” bezichtigt. Es gehört zum neoliberalen Verständnis, aus Unsicherheit “Freiheit” zu machen, aus Ausbeutung “Chancen” und aus Misserfolg persönliches Verschulden jenseits struktureller Zwänge.  Genau das geschieht auch im Zusammenhang mit Prostitution. Sie wird als Chance hingestellt, um Armut zu entkommen, wer sie kritisiert, muss sich noch rechtfertigen, dass er diesen Frauen die “Lebensgrundlage” entziehen will, also sie vor Ausbeutung beschützen will. Niemand kommt auf die Idee, sich mal anzusehen, was denn für Strukturen dahinter stecken, eine zutiefst patriarchale Institution, Männer kaufen Frauen, kaufen das Recht, sie zu benutzen und zu erniedrigen und verteidigen es bis auf das Letzte und verkaufen dieses Recht auch noch als Chance für die ärmsten der Frauen, genau der Armut, die durch das Patriarchat doch erst mit verursacht wird, zu entkommen.  Frauen sind von Armut immer härter betroffen als Männer. Das ist das Recht des Stärkeren, das ist patriarchales Recht auch heute noch, und das greift umso mehr in den ärmeren und neuen Ländern der EU und Europas. Zu absurd? Nein. Realität.
Diese Frauen sind verletzlich, schutzlos, unsichtbar und sie werden absichtlich unsichtbar gemacht durch das ständige Gelärme der “Sexworkerlobby” – das nun auch noch von Marx21 unterstützt wird. Warum sitzt keine der rumänischen, der ukrainischen Prostituierten auf dieser Veranstaltung und berichtet aus ihrem Alltag, wo sie doch den größten Anteil der Prostitutierten in Deutschland ausmachen? Warum fällt gerade die Linke auf dieses Theater herein und warum besinnt sie sich nicht auf das, was sie doch eigentlich am besten kann, auf eine ordentliche Kritik an diesem System? Eine ökonomische, eine soziale, eine menschliche?
"Der reale „Arbeitsmarkt“ Prostitution wird von außer-ökonomischen Zwängen beherrscht – es treffen eben nicht freie Verkäufer und Käufer einer Ware aufeinander – dies war so und wird immer so sein. Einfach gesagt: es gibt keine Prostitution ohne Gewalt und Alternativlosigkeit, daher ist der ganze Versuch, Prostitution entlang von Kriterien der marxistischen Werttheorie zu analysieren ein intellektueller Griff ins Klo. Man kann im Regelfall auch von keinem frei vereinbarten Geschäftsverhältnis (und -Inhalt) zwischen Zuhälter-Freier-Prostituierte sprechen.

ProstitutionsbefürworterInnen hingegen wollen uns glaubhaft machen, dass der Körper ein vom Bewusstsein abspaltbares Etwas sei, über das man zudem noch unter allen Umständen eine rationale Kontrolle ausüben könne. Wir glauben, dass das nicht der Fall ist: Einem Menschen ist es unmöglich, permanent von Unbekannten penetriert zu werden, dabei den eigenen Körper unter Kontrolle zu haben, Teile des Denkens abzuschalten, Angst vor Gewalt zu haben, gleichzeitig Lust vorzuspielen wo Ekel herrscht, kurz, zu ignorieren wie der eigene Körper von Fremden gebraucht wird und dazu zu lächeln und lustvoll zu stöhnen.

Zweitens ignorieren oder verniedlichen ProstitutionsbefürworterInnen, dass ein Sexmarkt ohne Massenmigration von Frauen und Mädchen in die kapitalistischen Zentren völlig ausgetrocknet wäre. Die Idee, dass es sich bei Prostituierten um besonders clevere Menschen handelt, die so der Ausbeutung an der Supermarktkasse entgehen, ist schlicht zynisch, denn die Mehrheit der Prostituierten hat keine andere Alternative als sich selbst zu verkaufen." 6
Der zweite Absatz spricht einen Umstand an, der immer wieder heruntergespielt wird, wenn es um “Sexarbeit” geht. Angeblich wird nämlich “Sex” verkauft und nicht das Selbst. Eine Dienstleistung. Aber eine Dienstleistung übe ich aus, dazu muss ich keine Intimität zulassen. Wie kann man Intimität verkaufen, ohne dass es an das Eigene geht, an die Psyche, das Selbst? Und jetzt noch einmal vor dem Zusammenhang, dass so viele dieser Frauen Gewalterfahrungen haben? Sex als Ware zu verstehen gehört zu den Abgründen einer kapitalistischen Gesellschaft. Wer, wenn nicht die Marxisten, wenn nicht die Linken sollten sich genau gegen das wehren? Sex kann ebenso wenig eine Ware sein wie Freundschaft oder eine Beziehung – kann es aber laut dieser vollkommen verqueren Ansicht dann doch, denn Freier stehen zunehmend auf den sogenannten “Girlfriend Sex”, auf Prostituierte, die ihnen vorspielen, sie seien ihre Freundinnen. Kann es noch absurder werden? Was lassen wir dann noch alles “warenförmig” werden? Die Mutterschaft nicht, bislang nicht, da steht das Gesetz vor. Aber ist das nicht ein Widerspruch? Wie sieht es aus mit “Kindheit”. Kann ich mir die auch bald kaufen? Für ein paar Tage? Als Dienstleistung?

Diese ganze Debatte steckt voller Widersprüche, voller Abwehrreflexe, voller seltsamer Kumpaneien. Da lädt die aktuell wichtigste marxistische Plattform einseitig “Sexworker” ein, um über die Warenförmigkeit von Sex zu reden, während sich die radikalen Feminstinnen lieber mit der CDU auseinandersetzen, weil die die Kritik an der Prostitution zumindest teilen, vielleicht aber aus den falschen Gründen. Da betreiben ProProstitutionslobbyistinnen Seiten gegen Menschenhandel, obwohl bewiesen ist, dass legale Prostitution den Menschenhandel fördert. Da stehen Linke gegen Linke, nur weil die eine für, die andere gegen Prostitution ist. Warum werden in dieser Debatte nicht mal Inhalte diskutiert, anstatt Polemiken ausgetauscht? Und wann wacht die deutsche Linke endlich auf und besinnt sich mal darauf, dass sie hier dem sonst so verhassten Neoliberalismus auf den Leim geht, dass sie all ihre Ideale von Gerechtigkeit verrät, wenn sie dieses System schweigend duldet, ja, in einem falsch verstandenen Diskurs von “Freiheit” sogar noch fördert? Was kommt denn als nächstes? Vielleicht die Legalisierung von Menschenhandel? Weil Menschen vielleicht auch eine Ware sind, wenn sie sich freiwillig dazu entscheiden?


Mira Sigel



1: Cacho, Lydia (2012): Sklaverei. Im Inneren des Milliardengeschäfts Menschenhandel
2: Malarek, Victor: The Johns: Sex for Sale and the Men Who Buy it.
3: http://www.derfunke.de/index.php/frauen/1302-prostitution-wider-die-neubewertung-gesellschaftlicher-barbarei
4: http://feministcurrent.com/8771/in-prostitution-race-class-and-sex-intersect-in-the-worst-of-ways-to-subjugate-native-women/
5: Cacho, Lydia (2012): Sklaverei. Im Inneren des Milliardengeschäfts Menschenhandel
6: http://www.derfunke.de/index.php/frauen/1302-prostitution-wider-die-neubewertung-gesellschaftlicher-barbarei

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