Mittwoch, 26. November 2014

„Ich lasse mich nicht so leicht einschüchtern“ - Die mexikanische Journalistin Lydia Cacho

"Wir brauchen dringend gute Journalisten in Mexiko. Das ist wichtig.
Ich will dabei sein, wenn sich die Dinge ändern."
Foto: Sarah Lee für The Guardian

Lydia Cacho gehört zu den furchtlosesten JournalistInnen Mexikos. Ihre Recherchen haben sie zur Zielscheibe von Mordanschläge gemacht. Jetzt war sie gezwungen, aus ihrem Land zu fliehen. Was nun?



Originaltitel: Mexican journalist Lydia Cacho: 'I don't scare easily'
The Guardian, 1. September 2012, Autorin: Emine Saner
Übersetzt und veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Emine Saner und The Guardian, (c) Guardian News & Media Ltd

2005 marschierten mehrere Polizisten auf Lydia Cacho zu. Sie packten sie und verfrachteten sie in einen Lieferwagen. In den 20 Stunden, die die Strecke von Cancún in Südmexiko, wo sie lebt, nach Puebla im Norden in Anspruch nimmt, wurde sie „gefoltert“, wie sie selbst sagt. Man drohte ihr sexuelle Gewalt und schob ihr eine Waffe in den Mund. Es muss die reinste Achterbahn des Horrors gewesen sein: „Es ging immer wieder hin und her, in einer Minute dachte ich, ich würde sterben, in der anderen, ich überlebe.“

Als sie ankamen, gab ihr eine weibliche Wachperson zu verstehen, man würde sie im Gefängnis vergewaltigen. Doch dann machte ein Netzwerk aus Freunden, Kontakten und Aktivisten mobil und bekam sie gegen Kaution frei. Seither haben immer wieder Mordversuche gegen sie stattgefunden und sie wurde als eine der mutigsten JournalistInnen Mexikos bekannt. Aktuellen Schätzungen zufolge sind in dem Land seit 2006 67 Menschen Anschlägen zum Opfer gefallen. Inmitten all dessen hat Cacho die Arbeit an ihrem nächsten Buch aufgenommen.

Die Geschichte sagt einiges über Cacho aus und auch über die Welt, in der sie arbeitet, im Konkreten mutmaßliche Korruption (so sind Aufnahmen aufgetaucht, die zu zeigen schienen, dass ihre Festnahme von einem Mann eingefädelt worden war, über den sie geschrieben hatte, mit dem Vorwurf, er unterhalte Verbindungen zu einem Päderastenring), die prekäre Lage von Mexikos JournalistInnen und die Tatsache, dass sich Cacho nicht mundtot machen lässt. Ihr neues Buch, Sklaverei: Im Inneren des Milliardengeschäfts Menschenhandel, erscheint in Kürze in Großbritannien. Obwohl sie jahrelang mit Todesdrohungen gelebt hat, nahm sie die neueste in der Serie, die vor vier Wochen eintraf, so ernst, dass sie das Land verließ.

Am 29. Juli hatte sie über ihren Satellitenfunk einen Anruf von einem Mann erhalten, der ihr sagte, sie, eine „verfluchte Schlampe“, habe ihre Warnungen ignoriert, woraufhin er mit folgendem Satz schloss: „Wir schicken dich stückchenweise nach Hause.“ „Sie sind an meinen Funkkanal gekommen, es musste also jemand sein, der die Macht und die entsprechenden Mittel hatte“, sagt sie. „Ich rief sofort einige Sicherheitsexperten an, einen hier in London, und erzählte ihnen alles. Sie sagten, ich solle auf der Stelle das Haus verlassen. Ich rief meine Anwälte an, die mir das Gleiche sagten, also tat ich es. Ich schnappte mir gerade mal meinen Pass und eine Tasche und machte mich davon.“

Hat Cacho Angst? Die Frage mag auf der Hand liegen, doch nicht so die Antwort. Sie sitzt mir an einem Tisch in einem Büro in der Londoner Stadtmitte entgegen und ist vollkommen gefasst. Nur ab und zu leuchtet die Wut in ihren dunklen Augen auf. „Das ist doch völlig absurd“, sagt sie. „Ich sage die Wahrheit, ich bin eine gute Journalistin, und muss aus meinem Land flüchten.“ Später sagt sie: „Ich lasse mich nicht so leicht einschüchtern.“ Mehrere Länder haben ihr Asyl angeboten, nicht nur zu dieser Gelegenheit, sondern auch in der Vergangenheit, doch sie hatte nie darauf eingehen wollen. „Ich mag mein Land. Journalisten, die wirklich gut sind, werden [in Mexiko] so dringend benötigt. Es ist wichtig. Ich will dabei sein, wenn sich die Dinge ändern.“

Hat sie sich darauf eingestellt, dass sie eventuell für längere Zeit wegbleiben muss? Ein tiefes Seufzen. „Ich will zurück nach Hause, denn dort ist alles, mein Haus, meine Hunde. Ich versuche herauszufinden, wer es war und sie bloßstellen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, wenn ich mit dem Leben davonkommen will.“ Sie denkt, die Drohung hänge mit ihrem Buch zusammen, in dem sie Männer beim Namen nennt, die laut ihr in Mexikos Sexhandel verstrickt sind.

Sie ist an einige Brennpunkte des Sextourismus der ganzen Welt gereist, um die einzelnen Puzzleteile des florierenden globalen Sexhandels zusammenzusetzen. Die Geschichte, die sich daraus ergibt, wird über weite Strecken von Frauen und Kindern erzählt. Sie begegnete Kindern, die aus dem Sexhandel in Kambodscha und Guatemala gerettet worden waren. Eine Nordamerikanerin berichtete ihr, wie ihre „Arbeitgeber“ - sie hatte geglaubt, sie würde als Sängerin in einem Nachtclub arbeiten – ihr Visum und Flugticket beschlagnahmten und sie mehrere Tage lang in ein Hotelzimmer einsperrten, wo sie unter Drogen gesetzt und von Dutzenden Männern vergewaltigt wurde. Eine Frau aus Venezuela, die ihren Schleusern in Mexiko entkommen war, konnte mehrere Beamte der Einreisebehörde identifizieren, die entweder selbst Kunden waren oder die Einreise von Mädchen ermöglicht hatten, die ins Land gebracht worden waren. In Mexiko-Stadt verkleidete sich Cacho als Nonne – sie hatte befunden, dies sei die einzige Möglichkeit für eine Frau, sich in den mafiakontrollierten Gegenden zu bewegen. So sah sie Kinder, die in Motels prostituiert wurden.

Es ist bekanntermaßen schwierig, Zahlen dafür zu finden, wie viele Menschen verkauft und versklavt werden. 2005 gab die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, bekannt, dass zu jedem beliebigen Zeitpunkt 2,4 Millionen Menschen zum Zwecke der Zwangsarbeit verschleppt werden, wovon mindestens 43% gezwungen werden, in der Sexindustrie zu arbeiten. Dabei handelt es sich jedoch um eine konservative Schätzung. „Als ich an diesem Buch arbeitete, wollte ich verstehen, wie die internationalen Märkte miteinander verknüpft sind“, sagt sie. „Als Reporter war ich so richtig frustriert, denn jedes Mal, wenn ich einen Experten interviewte, wurde mir erzählt, es gäbe keine Verbindungen zwischen diesen Märkten, dies sei kein weltweites Geschäft. Aber das ist es.

Während ihrer Recherchen hat sie immer wieder Drohungen erhalten. „In Bangkok übernachtete ich in piekfeinen Hotels, denn so konnte ich die reichen europäischen Kunden sehen, die sich Mädchen oder Jungen mit auf ihr Hotelzimmer nehmen. Ich saß an der Bar und hatte meine Kamera dabei. Es gab immer jemanden, der zu mir kam, meistens ein Kellner, um mir zu sagen: „Seien Sie vorsichtig, machen Sie das lieber nicht, Sie sind Journalistin, oder?“ In Kambodscha musste ich aus einem Casino wegrennen und mich in meinem Hotel verstecken.“ Sie versuchte, sich mit Hilfe von Möbeln in ihrem Zimmer zu verbarrikadieren. „Ich dachte, das wäre klug.“ Sie lacht. „Aber dann sagte ich mir: ,Was für eine blöde Idee, die haben Waffen und ich gerade mal einen Stuhl vor der Tür.’“

Cacho erklärt, dass sie, bevor sie mit ihren Recherchen begann, einer Legalisierung und Regulierung der Prostitution gegenüber aufgeschlossen war, dass sie auf viele WissenschaftlerInnen und Feministinnen gehört hatte, die gerade dafür eintraten. „Je mehr ich dann reiste und je mehr Frauen ich interviewte, desto besorgter wurde ich“, wie sie ausführt. „Ich bin vollkommen überzeugt, dass alle Formen von Prostitution die Diskriminierung auf Grundlage des Geschlechts und die Gewalt an Frauen zu etwas völlig Normalem machen und dass Frauen dazu ,erzogen’ werden, Prostituierte zu werden, weil sie Objekte sind in einer Gesellschaft, die Ghettos mit Frauen will, die man vergewaltigen kann.“

Weiterhin erklärt sie, sie glaube nicht, dass sich Frauen dafür „entscheiden“ können, Prostituierte zu werden: „Um eine Entscheidung treffen zu können, müssen Sie Möglichkeiten und Alternativen haben. Wenn Sie die nicht haben, dann entscheiden Sie im Grunde nicht, Sie halten sich nur über Wasser.“ Sie sagt, es gäbe nicht nur das Klischee der verschleppten und versklavten Kinder und Frauen (wenngleich es auf viele natürlich zutrifft), sondern auch jene Frauen, die hinters Licht geführt werden und den Männern, unter deren Kontrolle sie stehen, plötzlich tausende Dollar schulden. Frauen, die, wie Cacho schreibt, „darauf konditioniert wurden, ihre Körper zu verkaufen und die glauben, dass die Prostitution für sie die einzige Möglichkeit sein, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten“. In Kambodscha traf Cacho eine Frau, die ein Bordell betreibt und erklärte, wie sie Mädchen „neu programmiert“, indem sie „die sexuelle Ausbeutung in deren Augen zu etwas völlig Normalen macht, durch systematische Konfrontation mit Pornographie. Sie müssen überzeugt werden, dass sie es seien, die sich dafür entschieden haben, und sie müssen ständig daran erinnert werden, dass ihr Leben nichts wert ist.“

Selbst diejenigen Frauen, denen sie begegnete, die tausende Dollar verdienten und denen es scheinbar freistand, jederzeit auszusteigen, konnten sie nicht davon überzeugen, dass Sexarbeit eine rationale und freie Arbeitsentscheidung sein könnte. „Nach einer Weile, wenn es in einem Interview mehr in die Tiefe geht, erzählen Sie einem, wie mies es ihnen geht, wie sie von den Kunden misshandelt werden, wie sehr sie deren Geruch verabscheuen oder die Art und Weise, wie sich diese verhalten. Nach einer Weile geben sie einem kleine Geschichten preis, und diese Geschichten erzählen von Gewalt.“

Sie versucht, die Fäden miteinander zu verknüpfen, die sich über den Globus spannen. Sie traf sich mit der Ex-Frau eines Drogendealers, die beschrieb, wie junge Frauen zuerst als Prostituierte ausgebeutet und dann gezwungen werden, in ihren Fabriken zu arbeiten, wo sie illegale Drogen herstellen; wie in London Kontaktpersonen getroffen und wie Verbindungen zu Gangs in Mexiko und Kuba aufgebaut werden. Polizisten in diversen Ländern haben ihr erzählt, wie viele Polizisten, Politiker und Juristen in Bordelle gehen, die von organisierten Kriminellen betrieben werden. Der von ihr aufgezeigte Filz lässt einen nur so staunen. Der Sexhandel wächst, teilweise, so sagt sie, „weil sich Politiker auf der ganzen Welt nicht um die Armut kümmern. Im Grunde verbessern sie das Leben von Frauen und Mädchen nicht.“

Wie Cacho glaubt, ist einer der Gründe für den Anstieg von Pornographie und Prostitution, dass sich „rein gar nichts an der Männlichkeitskultur geändert hat“, auch wenn sich in Sachen Frauenrechte vielerorts manches zum Besseren wendet. Die Tatsache, dass es Männer aus Europa und Nordamerika gibt, die, wie sie darlegt, „nach Mexiko, Venezuela, Kambodscha oder Thailand gehen, um dort mit Frauen Sex zu haben, ist an sich schon eine Aussage.“ Sie erinnert sich an einen jungen Mann in Spanien, der ihr erklärt hatte, er benutze Prostituierte, weil er keine Lust habe, sich mit den Frauen zu unterhalten, denen er im Alltag als Ebenbürtige begegnete. Wie sie schreibt, wünscht sie sich eine „neue männliche Revolution“, „eine neue Generation von Männern, nicht von Kriegern, die bewaffnet sind, mit der Strafe Gottes drohen und Gewalt anwenden, sondern von Männern, die eine solide Vorstellung von Fortschritt und Gerechtigkeit besitzen“.

Cacho wurde in eine Großfamilie in Mexiko-Stadt hineingeboren. Der Vater war Ingenieur, die französische Mutter Psychologin und in der feministischen Bewegung aktiv. „Ihre Art, die Welt zu sehen, hat mich stark geprägt“, sagt sie. „Es war schockierend, in einem Haus zu leben, in dem die Gleichbehandlung unter meinen Brüdern und Schwestern eine Alltagsrealität war und dann in ein Land hinaus zu gehen, das die Rechte von Frauen nicht respektierte.“

Mit 23 wurde sie Reporterin und begann, über Gewalt an Frauen zu schreiben. „Mein Lektor sagte: 'Das ist gut, bleiben Sie dran.' Und da dachte ich mir, ja, das liegt mir.“ 1999 folgte ihr ein Mann zum WC eines Busbahnhofs in Cancún und griff sie brutal an. Er vergewaltigte sie und fügte ihr mehrere Knochenbrüche zu. Wie sie glaubt, war der Angriff eine „Strafe“ für ihre Arbeit.

Die Drohungen rissen nicht ab, insbesondere, seit sie versuchte, für ihr Vorgängerbuch, Los Demonios del Edén, einen Päderastenring in Cancún zu demaskieren (einer der Männer, über den sie geschrieben hat, Jean Succar Kuri, ist letztes Jahr verurteilt worden). Eine Zeitlang fuhr sie in einem gepanzerten Wagen und hatte vom Staat gestellte Bodyguards. Nach einem Anschlag auf ihr Auto verzichtete sie vor drei Jahren auf sie. „Ich habe selbst viele Freunde verloren und respektiere das. Sie haben gesagt, sie wollten in der Öffentlichkeit nicht mit mir gesehen werden. Da gab es einen dramatischen Umbruch in meinem sozialen Leben. Man lernt, sich überall nach Zeichen umzusehen, dass jemand auf einen zukommt, wenn man auf der Straße läuft, ein Motorrad zum Beispiel.“

Die seelischen Strapazen lindert sie mit Therapie, Yoga und – bis jetzt jedenfalls – damit, dass sie im Garten Zeit mit ihren Hunden verbringt: „wieder ein Gespür für die Erde bekommen, wieder aufleben. Mein Humor hilft mir auch. Viele Leute halten mich für schräg, weil ich über die ärgsten Sachen lachen kann – nicht, wenn sie passieren, aber im Nachhinein schon. Ich denke, das ist nur gesund. Man wird zynisch, wenn man nicht lachen kann.“

Die Risiken sind real. Im April ist ihre Freundin, die mexikanische Enthüllungsjournalistin Regina Martínez, ermordet worden. Auch Anna Politkowskaja war eine Freundin von ihr. Cacho erinnert sich, dass sie sich zwei Monate getroffen hatten, bevor die russische Journalistin 2006 ermordet wurde. Sie ringt nach Worten: „Wirklichkeit. Schock.“

Ihr bleibt nur, weiterzuarbeiten. (Sie kann nicht aufhören – gestern, so sagt sie, hat sie von ihrem Hotelzimmer aus eine Facebook-Seite an Interpol weitergeleitet, von der sie glaubt, dass sie von einem Päderastenring genutzt wird.) Neben dem Schreiben hat sie in Cancún ein Frauenhaus ins Leben gerufen. Im letzten Jahr wurde dort 30.000 Frauen geholfen, die vor Gewalt flohen. Sie erhielten Unterschlupf, psychologische Unterstützung und Rechtsberatung. Cacho wollte nie, dass ihr eigenes Leben zu einer Schlagzeile wird, doch die Todesdrohungen werfen auch auf ihre Arbeit Licht und auf die Gefahren, denen ihre KollegInnen ausgesetzt sind.
„Ein beschauliches Leben war nie mein Ziel, sonst wäre ich nicht Reporterin oder Aktivistin geworden“, sagt sie. „Natürlich habe ich manchmal die Nase voll von den politischen Winkelzügen und der Korruption, meine Arbeite stelle ich dabei aber nie infrage. Wir sind Journalisten, weil wir die Welt verbessern wollen.“ Sie lächelt. „Ich denke, meine Arbeit hat einen gewissen Beitrag dazu geleistet.“

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