Wir, das Bündnis Abolition 2014, hatten Sie bereits im Juni
angeschrieben und Ihnen Informationen und Materialien zu Prostitution in
Deutschland, der anstehenden Revision des Prostitutionsgesetzes und dem
Einfluss der Lobbyverbände zugesandt.
Die Gespräche zwischen den Koalitionspartnern und
Ministerien zur Neuregelung des Prostitutionsgesetzes gehen jetzt offenbar in
die Abschlussphase, ohne dass ein ernsthaftes Bemühen erkennbar wäre,
Prostitution und Menschenhandel in Deutschland grundsätzlich zu
bekämpfen.
Daher wenden wir uns heute nochmals an Sie. Denn Sie sind es
ja, die als Gleichstellungsbeauftragte vor Ort mit Bordellbetrieben und
Zuhälterei, Diskussionen um Sperrzonen, mangelhaften Ressourcen zur Betreuung
und gesundheitlichen Versorgung, Ausstiegsberatung und alternativen beruflichen
Möglichkeiten für Frauen in der Prostitution befasst sind. Sie haben die
Kompetenz, bei den Abgeordneten Ihres Kreises und den an den Gesprächen
beteiligten Koalitionspartnern und MinisterInnen zu intervenieren, sie zu
informieren und nachdrücklich eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem
Thema zu fordern. Dies auch und besonders mit Blick auf Erfahrungen im Ausland.
Europa
Laut OECD und Interpol ist Prostitution, vor allem
Elendsprostitution, und Menschenhandel in die Prostitution im vergangenen
Jahrzehnt in Europa rapide angestiegen. (1)
Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa - wie
weltweit - spreizt sich die Schere zwischen Arm und Reich zwischen den
Mitgliedsländern (siehe Osteuropa), aber auch innerhalb der Länder. Und Frauen
sind von der Armut in Europa überproportional betroffen, darunter vor allem
Mütter.
Wirtschaftliche Not ist, neben mangelnder Ausbildung und
Chancen auf dem Arbeitsmarkt, direktem Zwang und unlauterer Verführung der
maßgebliche „push-Faktor“, der vorwiegend junge Frauen in die Prostitution
treibt.
Der maßgebliche „pull-Faktor“ ist der Markt, vor allem die
Nachfrage, und Händler, BordellbetreiberInnen und ZuhälterInnen, die ihn
bedienen und mit dem Verkauf von Frauen zur sexuellen Benutzung gut
verdienen.
Die Nachfrage, das heißt die Sexkäufer in die Verantwortung
zu nehmen und den prostituierten Frauen (und Männern) Ausstiegshilfen und
ökonomische Alternativen zu bieten, war schon die Forderung von Frauenrechts-Organisationen
der Ersten Frauenbewegung Anfang des letzten Jahrhunderts. Als erstes Land
realisierte Schweden diesen Perspektivwechsel vor über 10 Jahren. Island,
Norwegen (2006), kürzlich – nach ausführlichen öffentlichen Anhörungen –
Kanada, Frankreich (2013), letzte Woche Nordirland etc. zogen nach. (2)
Im Februar dieses Jahres verabschiedete das EU
Parlament mit klarer Mehrheit die auf dem Bericht der Abgeordneten
Honeyball basierende Resolution zu Prostitution, die die Übernahme des
sogenannten Nordischen Modells als Richtlinie für die Mitgliedsstaaten vorgibt.
„Statt der Legalisierung, die in den Niederlanden und
Deutschland zu einem Desaster geführt hat, brauchen wir einen nuancierten
Ansatz, der die Männer bestraft, die die Körper von Frauen als
Gebrauchsgegenstand behandeln, ohne dabei diejenigen zu bestrafen, die in die
Sexarbeit abgedriftet sind“, so Mary Honeyball (S&D, UK), die die
Resolution entworfen hat. (3)
Im April erließ der Europarat eine Richtlinie zu
„Prostitution, Menschenhandel und moderner Sklaverei in Europa“, in der die
Regierungen in Europa zu mehr Engagement gegen Sex-Sklaverei und Prostitution
ermahnt werden. Die Parlamentarier verlangen ein Verbot der Zuhälterei und
fordern breit angelegte Aufklärungskampagnen und Anlaufstellen für die Opfer
von Prostitution. Als Vorbild nennen sie Schweden , wo der Menschenhandel mit
Frauen auf Grund der Gesetzgebung stark zurück ging. In Deutschland hingegen
hat das liberalisierte Prostitutionsgesetz die Lage laut dem Bericht verschlechtert.
(4)
In beiden Resolutionen wird zudem gefordert, dass der
käufliche Erwerb sexuellen Zugangs zu prostituierten Frauen und Männern, die
unter 21 Jahren sind, in allen EU Staaten als kriminelle Handlung behandelt
werden sollte.
Deutschland
Die Bundesregierung ist weit davon entfernt, die Richtlinien
des europäischen Parlaments und Europarats zu übernehmen und behindert dadurch
eine effektive gemeinsame Politik der EU zur Eindämmung von Prostitution und
Menschenhandel. Nur einzelne Bundestags-Abgeordnete haben sich bislang zu
diesem europäischen Weitblick und grundsätzlichen Umdenken durchgerungen.
Im Koalitionsvertrag einigten sich die beiden
Regierungsparteien jedoch auf striktere Regulierungen des Marktes. (5) Die
bereits Monate dauernden Verhandlungen, soweit sie überhaupt an die
Öffentlichkeit dringen, haben bisher offenbar nur einen Minimalkonsens über
eine strengere Erlaubnispflicht für Bordelle und ein Verbot besonders grausamer
Praktiken wie „gangbang“ und „flat-rate“ erbracht.
Alle weiteren Forderungen,
die vor allem die Koalitionspartner der CDU/CSU (5) stellen, sind nach wie vor
strittig:
- Heraufsetzung des Schutzalters auf 21 Jahre
- Kondompflicht für Sex-Käufer
- Obligatorische Gesundheitsuntersuchungen für alle Personen, die der Prostitution nachgehen,
- ebenso wie
- Verpflichtende Beratungen und Meldepflicht für diesen Personenkreis.
- Abschaffung der Weisungsbefugnis für BordellbetreiberInnen.
Über die im
Koalitionsvertrag festgeschriebene Bestrafung der Sex-Käufer von
Zwangsprostituierten gibt es widersprüchliche Pressemeldungen
Offener Brief an die Bundeskanzlerin
Wir senden Ihnen zu Ihrer Information den offenen Brief an
die Bundeskanzlerin von Sabine Constabel, Sozialarbeiterin des Gesundheitsamts
bei La Strada in Stuttgart, mit. Sie legt hier anschaulich aus der Praxis der
Prostitution dar, warum diese Regulierungsmaßnahmen notwendig sind, um die
Ausbeutung von Frauen in der Prostitution zumindest zu erschweren und
einzudämmen.
Wenn nicht entschiedene Maßnahmen in Richtung eines
Perspektivwechsels gesetzlich eingeleitet und effektive Ausstiegs- und
Betreuungsprogramme für Frauen und Männer in der Prostitution gefördert und
finanziert werden, wird weiterhin
sexuelle und ökonomische Ausbeutung von vor allem jungen,
ausländischen Frauen verschärft
- Menschenhandel und organisierte Kriminalität – auch Begleitkriminalität – befördert
- die Gesundheit vor allem der Prostituierten selbst, aber auch, durch sexuell übertragbare Krankheiten, von allen fahrlässig gefährdet
- Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit unterhöhlt
- die sexuelle Freiheit und Selbstbestimmung aller Frauen gefährdet
und
unseren Jugendlichen eine patriarchalische Sexualität vorgeführt, die Frauen
als „käuflich“ begreift und Missbrauch gegen Bezahlung als „Männer/Herrenrecht“
rechtfertigt.
Was tun?
Wir, unser Bündnis Abolition 2014, wollen das Phänomen in erster Linie über die Nachfrage nach kommerziellem sexuellen Zugang zum Körper anderer angehen und setzen uns konsequent für das schwedische Modell ein. Wir unterstützen die EU-Richtlinie und fordern eine gemeinsame Strategie der EU- Länder. Wir befürchten, dass halbherzige gesetzliche Regulierungsmaßnahmen immer der Realität dieses kriminellen, ausbeuterischen Milliarden-Markes hinterherhinken werden.
Doch auch wenn Sie dieses Ziel nicht teilen, bitten wir Sie,
sich dafür einzusetzen, dass dieser explodierte Markt wieder zurück gefahren
wird. Und dass sich die Bestimmungen nicht vorzugsweise an den Bedürfnissen der
Freier, der Bordellbetreibenden, ZuhälterInnen oder einer winzigen Gruppe von
Escort-Damen und Dominas orientieren. Es kann auch nicht darum gehen,
einen brutalen Geschäftszweig mit etwas „Nachhaltigkeit“ auszustatten. Hier
geht es um Menschen, nicht um Bodenschätze.
Mehrere Mitglieder des Koordinationskreises der Koalition
und in den Ministerien engagieren sich und nutzen unsere Informationen. Sie sind
zu einem Dialog mit möglichst vielen Akteurinnen bereit und wir erhielten
mehrfach die Rückmeldung, dass Einwände und Briefe an Abgeordnete, die sich oft
nur oberflächlich mit dem Thema befassen, bei den AdressatInnen auch
„ankommen“.
Die Adressen der MDBs finden Sie hier: http://www.bundestag.de/abgeordnete
Für weitere Anfragen stehen wir gerne zur Verfügung
Mit freundlichen Grüßen
Abolition 2014
___________________________
(1) http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-is-new/news/news/docs/20141017_working_paper_on_statistics_on_trafficking_in_human_beings_en.pdf
http://www.focus.de/politik/ausland/eu-studie-zu-menschenhandel-prostitution-und-zwangsarbeit-steigen-sprunghaft-an-in-europa_aid_960034.html
http://www.focus.de/politik/ausland/eu-studie-zu-menschenhandel-prostitution-und-zwangsarbeit-steigen-sprunghaft-an-in-europa_aid_960034.html
(2) Norwegen hat eine Evaluation seines Gesetzes nach dem
Schwedischen Modell vorgelegt – die Ergebnisse sind positiv. Die Studie wurde
von der deutschen Presse totgeschwiegen, wurde aber auf http://www.abolition2014.blogspot.de übersetzt.
In der Republik Irland gibt es eine große Mehrheit für das schwedische Modell,
die Niederlande sehen sich zum Umdenken gezwungen, nachdem Ermittlungen dort
immer wieder ergeben, wie legale Modelle für Ausbeutung und Menschenhandel
genutzt werden.
(3) http://www.europarl.europa.eu/news/de/news-room/content/20140221IPR36644/html/Die-Freier-bestrafen-nicht-die-Prostituierten-fordert-das-Parlament
(4) http://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article126711954/Europarat-fordert-Massnahmen-gegen-Sex-Sklaverei-und-Prostitution.html
(3) http://www.europarl.europa.eu/news/de/news-room/content/20140221IPR36644/html/Die-Freier-bestrafen-nicht-die-Prostituierten-fordert-das-Parlament
(4) http://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article126711954/Europarat-fordert-Massnahmen-gegen-Sex-Sklaverei-und-Prostitution.html
Die Resolution im Wortlaut: http://www.assembly.coe.int/nw/xml/XRef/X2H-Xref-ViewPDF.asp?FileID=20559&lang=en
(5) http://www.focus.de/politik/deutschland/bundestagswahl-2013/der-koalitionsvertrag-im-wortlaut-4-1-zusammenhalt-der-gesellschaft-miteinander-staerken_id_3436184.html
(5) http://www.focus.de/politik/deutschland/bundestagswahl-2013/der-koalitionsvertrag-im-wortlaut-4-1-zusammenhalt-der-gesellschaft-miteinander-staerken_id_3436184.html
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