Freitag, 18. April 2014

Zuber-Bericht: Warum Europa den Text "dieser Unbefriedigten” verhindert hat

Von Vincent Berthe, erschienen am 19. März 2014, Quelle: Terrafemina, übersetzt und veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors


© THIERRY CHARLIER/AP/SIPA
Hat Europa die Gleichheit zwischen Männern und Frauen auf dem Kieker? Die Frage drängt sich einem regelrecht auf, nachdem der Zuber-Bericht jämmerlich gescheitert ist, welcher auf die spezifische Situation von Frauen in Zeiten der Wirtschaftskrise aufmerksam gemacht hat. Zwei Monate vor der Europawahl sieht die sozialdemokratische EU-Abgeordnete Véronique De Keyser darin ein äußerst alarmierendes Warnsignal.

Allen Erwartungen zum Trotz hat das Europäische Parlament am 11. März den „Bericht zur Gleichstellung der Geschlechter in der Europäischen Union“ knapp abgelehnt, den die Abgeordnete Inês Cristina Zuber von der Portugiesischen Kommunistischen Partei dem Plenum vorgelegt hatte. Der Text, der das linke und rechte Lager spaltete, war am Ende zum Scheitern verurteilt, als sich ein Teil der Grünen der Stimme enthielt.

Es ist das Aus für jene EU-Richtlinien, die das Einhalten des Grundprinzips der Lohngleichheit bei gleicher Arbeit zum Inhalt haben, außerdem das Verbot von Zwangsentlassungen bei Schwangerschaft, die Bekämpfung sexistischer Stereotype sowie die Einführung von Quoten, mit denen Frauen auf Entscheidungsposten unterstützt werden. Najat Vallaud-Belkacem kommentierte umgehend, es handele sich um eine „bestürzende Ablehnung“. Bestürzend ist sie gewiss, aber auch überraschend. Die sozialdemokratische, belgische Abgeordnete Véronique De Keyser war während der Abstimmung im Plenum zugegen. Sie lässt den Tag Revue passieren, an dem der „unfassbare Rückschritt“ für die Frauenrechte erfolgte.


Terrafemina: Ist die Abstimmung angesichts der Kräfte, die hier am Wirken sind, wirklich eine Überraschung?

Véronique De Keyser: Ganz klar. Sie war ebenso überraschend wie bereits die Ablehnung der Estrela-Resolution über reproduktive Rechte letzten Dezember. Diese beiden Texte, aber auch jener, den Ulrike Lunacek (österreichische Abgeordnete und Ko-Präsidentin der Intergroup on LGBT Rights des Europaparlaments, Anm.d.Red.) zur Bekämpfung von Homophobie verfasst hat, wurden zur Zielscheibe einer intensiven Lobbykampagne via E-Mail. Es ist ein Klassiker, dass dieser Aktionismus am Ende der Legislaturperiode ins Rollen kommt und sich die Interessengruppen gerade jetzt bei den kandidierenden Abgeordneten ins Gedächtnis rufen. Von daher war es äußerst lehrreich zu beobachten, was sich in der Plenarsitzung abspielte. So hätte der von Edite Estrela verfasste Bericht mit zwei, drei Stimmen mehr oder weniger angenommen werden sollen, doch gegen alle Erwartungen blieben die Stimmen der italienischen und maltesischen Sozialdemokraten aus, die entschiedene Gegner des Rechts auf Abtreibung sind. Damit hatte niemand gerechnet und es löste eine wahre Kollision aus. Lunaceks Text hingegen ist mit einer größeren Mehrheit als erwartet angenommen worden.

„Frauen sind die ersten Opfer der Krise“
Tf: Und jetzt der Text der Abgeordneten Inês Cristina Zuber...
V.D.K.: Der, das möchte ich betonen, weder das sakrosankte „Recht auf Leben“, ein Argument, das den Pro-Life-Leuten so teuer ist, anrührte noch einen Kreuzzug zugunsten der Ehe für alle führte oder heikle Themen wie Embryonalzellen erwähnte... Also nichts, was das Plenum hätte in Aufruhr versetzen können. Ihr Text beschränkte sich darauf, die Situation der Frauen in der Arbeitswelt zu beschreiben und aufzuzeigen, dass sie die ersten Opfer der Krise sind. Wäre es mit logischen Dingen zugegangen, dann hätte er die Mehrheit erhalten, welche sich aus den Liberalen, den Grünen und der Vereinten Linken zusammengesetzt hätte. Es hätte am 11. März genügt, dass die Fraktionen mitspielen. Klar, es war eine knappe Angelegenheit, aber ohne Enthaltungen wäre der Bericht durchgegangen...

Tf: Was ist passiert?

V.D.K: Wir dachten, wir könnten unseren Augen nicht trauen, als die Grünen wortwörtlich in zwei Teile explodierten, wobei ein gewisser Daniel Cohn-Bendit die Hand am Zünder hatte. Dabei konnte er nicht übersehen, dass er damit dem Text den Todesstoß versetzte. Dieser Sinneswandel vollzog sich in letzter Minute, das kann ich bezeugen. Ich sitze in der allerersten Reihe, neben dem Vorsitzenden der Liberalen, Guy Verhofstadt, Daniel Cohn-Bendit sitzt direkt hinter mir. Während der sehr langwierigen Abstimmung, über die wir Absatz für Absatz entschieden, hörte ich nun, wie Letzterer nörgelte: „Dieser Bericht ist Firlefanz, er ist völlig nutzlos, über sowas haben wir schon mal abgestimmt, schon wieder so eine Aktion von diesen Unbefriedigten“ usw. Dany tut sich immer gern hervor und macht einen auf lustig. Wir lassen uns auch gern von ihm bespaßen, solange er „richtig“ abstimmt. Bis er sein Fähnchen auf Enthaltung ausrichtete... Da war uns nicht mehr zum Lachen zumute.

Tf: Diejenigen unter den Grünen, die sich enthielten, äußerten Vorbehalte gegenüber Absatz 67 des Texts, der eine harte Linie gegen Prostitution empfiehlt...
V.D.K.: Ich nicht! Daniel Cohn-Bendit ist ein alter Hase in der Politik. Er wusste, was alles an der Abstimmung hängt und wie wichtig es war, an dem Tag Farbe zu bekennen. Insbesondere, wenn man weiß, dass die Rechtskonservativen jedes Mal ein Spektakel vom Zaun brechen, sobald der Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter einen Bericht erarbeitet. Ein einfacher Absatz kann eine solche Entscheidung demnach nicht rechtfertigen. Ich bin seit 13 Jahren im Parlament. Die Debatte zwischen denen, die „gegen Zwangsprostitution“ und jenen, die „allgemein gegen Prostitution“ sind, erhitzt schon lange die Gemüter. Es ist ein unendliches Thema, das Jahr für Jahr immer wiederkommt. Mir kann keiner weismachen, dass sich Cohn-Bendit & Co. dafür in die Bresche werfen. Daran kann ich keine Sekunde lang glauben. Diese Geschichte mit dem Absatz 67 ist nichts als eine nachträgliche, ziemlich hanebüchene Rechtfertigung.

„Daniel Cohn-Bendit kann manchmal ein Macho sein und hat sich einen Spaß aus der Sache gemacht.“
Tf: Anders formuliert?

V.D.K.: Einfacher formuliert, hatte Daniel Cohn-Bendit die Nase voll von dem Bericht. Er kann ein Macho sein und hat sich einen Spaß aus der Sache gemacht, indem er sie wie ein Fußballspiel kommentierte. Dieses Verhalten ist politisch verantwortungslos. Der Beweis: die Hälfte seiner Fraktion hat ihm nicht Folge geleistet, ganz zu schweigen von dem Donnerwetter mit Verhofstadt,
der ihn sofort mit der Frage angeherrscht hat, ob er jetzt vollkommen den Kopf verloren habe. Es fällt mir schwer zu beschreiben, was passiert ist, außer der Tatsache, dass Dany des Parlaments überdrüssig ist, was er auch ohne Umschweife immer wieder sagt. Aber dann soll er ruhig sein!

Tf: Die Gegner des Berichts von Inês Cristina Zuber haben den Text als „zu ideologisch“ auf ökonomischer Ebene bezeichnet. Womit antworten sie denen?
V.D.K.: Die Tatsachen sind ideologisch, der Bericht nicht. Der Text listet einfach nur ausführlich die Gesamtheit der Auswirkungen auf, mit denen Frauen wegen der Wirtschaftskrise konfrontiert sind: Arbeitslosigkeit, Teilzeit, Familie, Gesundheit usw, und bleibt dabei völlig auf dem Boden der Tatsachen. Frauen sind sehr wohl die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, umso mehr, wenn sie über keine Aufenthaltspapiere verfügen. Ich bin keine Kommunistin, aber dafür habe ich eine Ausbildung zur Arbeitspsychologin. Von daher kenne ich mich doch ein bisschen mit den Fragen aus, die die Arbeitsbedingungen von Frauen berühren. Und eines kann ich Ihnen bescheinigen, wie übrigens auch der Großteil der Berichte, die seit 2008 geführt werden: dieses wirtschaftliche Steuerungssystem, das immer nur “Sparen” im Sinn hat, hat die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen erheblich verschärft. Das ist eine reine Feststellung, vor der man nicht die Augen verschließen kann und die nichts mit Ideologie zu tun hat. Die Vertreter des rechten Lagers können noch so sehr das Gegenteil behaupten, in Wahrheit ist jeder mit dem Gesamtbild vertraut: es wird maximal gespart, um die Staatskonten brutal zu schröpfen. Dieses Vorgehen erinnert mich an die Scharlatane bei Molière, die keine Behandlungsmethode außer dem Aderlass kennen. Dabei weiß man, dass Aderlass den Patienten umbringt...

„Jetzt, wo die Wahl in greifbare Nähe rückt, werden die Lobbys extrem bissig.“
Tf: Weitere Stolpersteine sind der freiwillige Schwangerschaftsabbruch sowie Aufklärung gegen sexistische Vorurteile in den Schulen. Beide Punkte lassen die Proteste in den traditionalistischen Kreisen Europas neu aufflammen. Sind diese in Straßburg besonders einflussreich?
V.D.K.: Sobald es um Fragen reproduktiver Gesundheit geht, sind sie sehr hemmend, da sie sofort auf die Barrikaden springen. Es ist auch nichts Neues, dass sie keine versprengten Einzelgänger sind. Aber man braucht auch nicht glauben, dass die ganze Zeit Gestalten durch die Parlamentsflure wandeln, die mit dem Kruzifix in der Hand versuchen, uns die bösen Geister auszutreiben (lacht)! Gleichwohl malen sie sofort Schreckgespenster an die Wand und treten massenhaft auf den Plan, sobald für sie unangenehme Themen auftauchen. Das funktioniert nicht immer, wie die Verabschiedung des Berichts meines Kollegen Marc Tarabella zeigt, der die Bedingungen von Schwangerschaftsabbruch zum Inhalt hat. Allerdings befanden wir uns zu dem Zeitpunkt im ersten Drittel der Legislaturperiode. Inzwischen sind wir bei der vorletzten Plenarsitzung angelangt und befinden uns mitten im Wahlkampfspiel. Es wird knapp, das wissen die Lobbys und werden extrem bissig. Es ist ein sehr misslicher Kontext, der vieles verändert. Ich habe zum Beispiel noch nie gesehen, dass zwei dermaßen wichtige Berichte wie jene von Estrela und Zuber im Parlament auf die Art vom Tisch gefegt wurden. Wir haben es in Europa mit einer offensichtlichen Verhärtung der Fronten zu tun. Die künftige politische Zusammensetzung des Parlaments wird demzufolge entscheidend dafür sein, ob es Fortschritte in Sachen Frauenrechte gibt oder nicht.

Tf: In Frankreich wie in etlichen Nachbarländern betont man immer gern, wie schwer es Europa doch fällt, gesellschaftlichen Fortschritt zu verkörpern und dass es am Ende doch nichts weiter als ein Freihandelsmarkt sei. Spricht diese Abstimmung dafür?
V.D.K.: Sie ist zwar ein sehr starkes Signal, aber nicht unbedingt ein schlechtes. Sie ist ein Wespenstich, der daran erinnert, was in der nächsten Legislaturperiode passieren könnte, wenn sich keine sehr viel stärkere Mehrheit abzeichnet. Im aktuellen Plenum mit seinen über 750 Abgeordneten halten sich das rechte und linke Lager so ziemlich die Waage. Die Blöcke stehen sich gegenüber, ohne dass es echte Spielräume gäbe. Jedes Mal geben etwa zehn Stimmen den Ausschlag. Wenn die Rechte weiterhin Gewinne verbucht, dann kann ich Ihnen garantieren, dass wir in Sachen Frauenrechte in eine lange Phase des Rückschritts abtauchen. Mit den Euroskeptikern und den Radikalen, die im zukünftigen Parlament aller Wahrscheinlichkeit nach Plätze belegen werden, steuern wir auf eine europäische Paralyse zu. Und das ist das vorprogrammierte Ende für Europa. Zwei solche Legislaturperioden können wir uns nicht leisten, wir müssen um jeden Preis vorankommen. Denn, im Gegensatz zu dem, was viele unserer Mitbürger denken, ist Europa ganz und gar nicht politisch machtlos, das Parlament verfügt über enorm viele Rechte. Nur muss es diese auch nutzen können! Dessen muss man sich bewusst sein, sonst wird dieser „nervige Bericht dieser Unbefriedigten“ am Ende nur ein Vorgeschmack auf weitere, ebenso fundamentale Fehlschläge sein.

(MH)

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