Donnerstag, 4. Juni 2015

Sisyphosarbeit gegen das Elend - Eine FIM-Mitarbeiterin berichtet über Armutsprostitution in Deutschland



Wikimedia commons, Syzyfki (Sisyphers)
Wroclaw dwarf 05, by Pnapora
Am vergangenen Dienstagabend versammelten sich über 20 Frauen im Rahmen der monatlichen Gesprächsrunden der Frauen AG im Club Voltaire in Frankfurt, um Encarni Ramírez Vegas Bericht über Armutsprostitution zuzuhören. Ramírez Vega ist Sozialarbeiterin bei FIM (Frauenrecht ist Menschenrecht). Diese Organisation führt unter anderem Streetwork durch, indem die Sozialarbeiterinnen als direkte Ansprechpartnerinnen zu  den prostituierten Frauen in die Bordelle gehen. Laut Selbstauskunft ihrer Homepage ist FIM seit 1999 die Koordinierungsstelle für Opferschutzarbeit gegen Menschenhandel in Hessen.

Frau Ramírez Vega gab zunächst einen Überblick über die Bereiche der Prostitution – sie unterschied dabei zwischen der selbstbestimmten Prostitution, Armutsprostitution und Menschenhandel. Sie ging auf das Elend ein, mit dem die FIM-Frauen bei ihrer Arbeit konfrontiert sind: sehr junge Frauen, zum Teil Analphabetinnen, werden mit Drohungen in die Prostitution gebracht und gehalten. Diese Frauen „existieren praktisch nicht“, erklärte Ramírez Vega; sie seien nicht gemeldet, hätten keine Krankenversicherung. Oft hätten sie wenig Information über ihren Körper, die ersten sexuellen Erfahrungen fänden oft in der Prostitution statt.


 

Zum Großteil handelt es sich Ramírez Vega zufolge um osteuropäische Frauen, vor allem Bulgarinnen und Rumäninnen, die aus unvorstellbarem Elend nach Deutschland kommen. Laut Ramírez Vega sei das Bordellzimmer für einige oft luxuriöser als das Zimmer, das sie zuhause hätten. Oft seien diejenigen, die die Frauen und Mädchen in die Prostitution bringen, Angehörige oder ein „Freund“, der die Loverboy-Methode einsetzt. Durch die persönliche Bindung sei es oft kompliziert, Ausstiegswilligen zu helfen, denn die Dynamik zwischen prostituierter Frau und Zuhälter ähnele der in Fällen von Partnerschaftsgewalt. Ramírez Vega berichtete von einem Fall, bei dem FIM für eine Frau, die aus der Prostitution wollte, den Ausstieg organisiert hatte. Einen Monat, nachdem diese die angemietete Wohnung bezogen hatte, ging sie wieder zu ihrem Zuhälter zurück. Ramírez Vega sagte offen, dass diese Problematik sowie die Vielzahl dieser Frauen FIM inzwischen fast überfordere.

Ramírez Vega berichtete weiters über die bekannten Zustände, wie sehr die Standards, die früher galten, inzwischen gesunken sind. Preise auf der Straße bewegten sich zwischen 10-15 € pro Prostitutionsakt (in manchen Fällen auch ein Burger als Bezahlung). Kondombenutzung sei nicht mehr allgemein üblich. Bezüglich der Praktiken bestehe ein hoher Druck, vor allem wenn ein Zuhälter involviert sei, oder der Bordellbetreiber überhöhte Zimmermieten fordere (bis zu 140€ pro Tag).

Angesichts all dessen ist natürlich die Frage, wie FIM politisch zum Thema Prostitution steht. Auf Nachfrage erklärte Ramírez Vega, dass FIM nicht für das Nordische Modell eintritt und brachte als Begründung das Untergrund-Argument – die Prostitution würde dann in den Untergrund abwandern und ließe sich noch weniger regulieren. In der früh noch während des Referats aufkeimenden Debatte entkräftete eine Zuhörerin dieses Argument mit Bezug auf Simon Häggström: wenn die Freier die Frauen finden, könne dies die Polizei ihm zufolge ebenso. Einen „Untergrund“ könne es für die Prostitution somit nicht geben.

Vorwiegend äußerten sich in der sehr engagiert geführten Diskussion Frauen, die das Nordische Modell befürworteten und fundiert dafür argumentierten. Jedoch durfte das bekannte Putz-Argument natürlich nicht fehlen („Arbeit wie jede andere… sexuelle Dienstleistung… ist wie Putzen gehen…“). Eine junge Frau berichtete von ihrer Wohngegend, in der Bordelle betrieben werden. Die Zustände seien unerträglich. Eine Interessengemeinschaft der AnwohnerInnen hat sich daher inzwischen gegründet. Sie verwies darauf, dass das was in Deutschland passiert, inzwischen weltweit Empörung weckt und sie sehr froh sei, dass internationale Organisationen einen Brief an Merkel geschrieben haben.

Das Problem des ökonomischen Elends als ein Pfeiler, auf dem die Prostitution aufbaut, durchzog ebenfalls die Debatte. Klar ist jedenfalls, dass es zynisch wäre, es als eine Art „Lösung“ zu betrachten, die Effekte ökonomischer Ungleichheit und Ausbeutung auf dem Rücken von Frauen zu mildern, indem jene sexuell ausgebeutet werden. Solch ein Standpunkt würde zweigleisig Unmenschlichkeit bejahen: zum einen die gegen die Frauen ausgeübte, zum anderen die, die das ökonomische Elend überhaupt erst hervorgerufen hat.

Trotz der abwehrenden Haltung FIMs zum Nordischen Modell erklärte Ramírez Vega, dass FIM sich eine Welt ohne Prostitution wünsche. Prostitution sei ihnen zufolge keine Arbeit wie jede andere und sie fänden es nicht richtig, dass Männer so die Notlagen von Frauen ausnutzen dürften. FIM wünscht sich mehr Ausstiegsförderung, z.B. indem auch ausländische Frauen Hartz VI beantragen können. So richtig dieser Ansatz ist, wird das natürlich nicht die Quellen der Ausbeutung trockenlegen. Eine junge Frau, die zuvor Unbehagen mit einem Verbot von Prostitution geäußert hatte, befragte Frau Ramírez Vega, warum FIM, wenn sie sich eine Welt ohne Prostitution wünschten, nicht für das Nordische Modell einträten. Ramírez Vegas Antwort lautete: „Weil Deutschland noch nicht so weit ist.“

Dies sehen wir selbstverständlich anders. Deutschland ist nicht nur längst so weit, es ist längst überfällig, gegen die humanitäre Katastrophe, die hier seit 2002 installiert wurde, und von der unmenschliche Teile der Gesellschaft sowie der Staat profitieren (Pauschalsteuer), anzugehen. Dabei müssten gerade jene, die als Expertinnen für Frauenrechte eintreten und das Unrecht aus eigener Anschauung kennen, ihre Stimmen erheben. Lange genug wurden wir von der Propaganda der Prostitutionslobby eingelullt. Auch international wächst das Unverständnis für die Zustände in Deutschland.

Abschließend äußerte die Veranstalterin der Frauen AG, wie wichtig die Frage der Solidarisierung mit Frauen über die Grenzen der eigenen ökonomisch bevorteilten Gruppe hinweg sei. An diesem Abend sei der Altersdurchschnitt des Gesprächskreises so jung gewesen wie selten; das mache ihr Hoffnung für die Zukunft der von ihr geforderten Solidarität.

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