Donnerstag, 3. Juli 2014

Die Lobby hat uns die Hirne verdreht


In einem Artikel, der auf dieser Seite erschienen ist, trifft die geneigte Leserin oder der geneigte Leser auf folgenden Satz:
"Die Realität wird von der Sexindustrie-Lobby verschwiegen: das nordische Modell führt zu höheren Einnahmen als in den Ländern, in denen Prostitution legalisiert / entkriminalisiert ist."

Die Sexindustrie-Lobby, auch Pro-Prostitutionslobby genannt. Noch nie von denen gehört? Das mag wohl daran liegen, dass sich ihre Vertreter und Vertreterinnen ungern so nennen. Hydra klingt schon besser, Kassandra und Madonna e.V. auch, Gleiches gilt für Bundesverband erotische und sexuelle Dienstleistungen oder Doña Carmen. Wer ab und zu zur Emma greift, dem wird ihr Name vielleicht doch ein Begriff sein, aber wer liest schon Emma? Da lachen einen ja alle aus.

In unseren Köpfen jedenfalls hat sich diese Lobby – wobei die genannten VertreterInnen nur wenige, wenngleich einflussreiche Beispiele darstellen – schon längst breit gemacht, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Denn es ist ihr gelungen, ihre eigenen Wahrheiten in den Medien so subtil und breit zu streuen, dass wir kaum merken, dass uns Zuhältersprache über die Lippen geht, wenn wir über das Thema reden.

Die Parolen der Lobby fallen auf den nahrhaften Boden des "anything goes". Diese Grundeinstellung gilt in allen Bereichen und ist auch bekannt als die Standardausrede, sich ja nicht einzumischen, wenn zum Beispiel aus der Nachbarwohnung mehr als suspekte Geräusche zu vernehmen sind oder auch nur darüber nachzudenken, dass es einen Unterschied geben könnte zwischen Bemuttern und klugem, umsichtigem Eingreifen, falls es notwendig und erwünscht ist. Ob es erwünscht ist und vielleicht sogar erbeten wird, das erkennen viele ja so und so nicht mehr, haben die Fähigkeit verloren, lange und mit offenen Ohren zuzuhören, mit Sinn für Zwischentöne und aus der Warte des Wohlwollens heraus.

Als weiteres Düngemittel für besagten Boden hat sich die panische Angst bewährt, als prüde rüberzukommen. Ein solcher Verdacht muss wirklich die Krätze sein, wenn ich sehe, wie er Verhalten steuert. Dies gilt leider oft für Frauen. Es geschieht in angenehm schwereloser Unabhängigkeit von jeglichen Zweifeln, ob Prostitution denn wirklich etwas mit schönem, von mir aus geilem, entrückendem, ... (bitte Präferenzen selbst einfügen) Sex zu tun habe. Oder ob es nicht eventuell verantwortungslos sein könnte, sich bei dem Thema immer und immer weiter um das Faszinosum der glücklichen Prostituierten zu drehen.

"Aber könnte es nicht sein, dass Manche es wirklich freiwillig machen?" - so schießt man sich mental auf einen winzigen Aspekt der ganzen Debatte ein, lässt sich blenden und sieht nicht mehr, worum es hier wirklich, im Kern, geht. Das Nähren dieses Phantasiegebildes hat zur Funktion, dass es das Gewissen erleichtert und man so mental abhaken kann, dass eventuell Bedarf zum Umdenken, wenn nicht gar zum Handeln besteht, und sei es auch nur, dass man sich im Gespräch mit Kollegen, Freunden, Bekannten, Verwandten nicht beirren lässt in den eigenen Zweifeln und sich nicht zu schade ist, gegen den Strom zu schwimmen.


Ich hege die Vermutung, dass das dauernde Vorschieben von Argumenten der Art "aber Manche machen es doch, weil sie das so wollen" letztendlich auch darauf beruht, dass man und vor allem frau sich in Sachen sexuelle Attraktivität an der prostituierten Frau misst - ausblendend, dass der gesamte für die Branche so typische Stil, auch Kleidungsstil, einzig und allein dazu da ist vorzugaukeln, dass die prostituierten Frauen nichts als Sex (mit den Käufern) im Sinn hätten. Je kitschiger, je übertriebener, desto größer der Widerspruch zur Realität. Wahrscheinlich spielt bei Frauen, die die "Wahrheiten" der Pro-Lobby wiederholen, ohne sich dessen bewusst zu sein, eine gewisse Angst eine Rolle, vom Partner durch die prostituierte Frau ersetzt zu werden, und sei es auch nur in der Fantasie.

So kommt es, dass Klamotten reißenden Absatz finden, die vor nicht allzu langer Zeit nur in Sexshops verkauft wurden und so kommt es vor allen Dingen, dass jegliche Solidarität denen gegenüber den Bach runter geht, die in die Prostitution geraten sind.

Sicherlich und bedauerlicherweise kommt hier auch Neid ins Spiel, der sich als heimliche Bewunderung tarnt, eine Bewunderung, die auf völliger Unkenntnis ob der ziemlich uncharmanten Lebenslage der allermeisten prostituierten Menschen basiert. Jemandem, den man heimlich beneidet, wird man sich nicht verbunden fühlen, wird man nicht die Hand ausstrecken. Schon gar nicht, wenn man der Überzeugung ist, die Person wäre schließlich aus freien Stücken dort und müsse folgerichtig allein mit den Folgen und unschönen Seiten zurechtkommen. Hat sie sich ja so ausgesucht. Den gleichen Zynismus trifft man auch in Bezug auf andere Ausbeutungsverhältnisse an. "Der hat einen Scheißjob? Aber er wusste doch vorher, worauf er sich einlässt und darf sich nicht beschweren."

Die gängige Meinung in der Bevölkerung jedenfalls wäre schon mal umgepolt, darf sich die Pro-Prostitutionslobby als Erfolg ins Heft schreiben. Die Namen von AbolitionistInnen, also jenen, die sich für prostituierte Personen und gegen das System der Prostitution einsetzen, die landen auch gleich in dem Heft. Lise Bouvet, der französischen Abolitionistin, wurde das Privileg zuteil, am eigenen Leib zu erfahren, was es wirklich bedeutet, eine Querdenkerin zu sein, Missstände zu erkennen und sich für deren Abschaffung einzusetzen.

Ebenso auf die Schulter klopfen darf sich die Pro-Lobby für den Erfolg einer weiteren Strategie. Um einmal langsam darauf zuzuarbeiten: es passt nicht in unser Weltbild, dass Organisationen, die sich für Menschenrechte einsetzen und dies auch im Namen tragen, selbst zu Handlangern werden. Nun ja... auch bei ihnen sitzen Männer, die ein gewisses Maß an Macht nicht verachten, wobei der Zusammenhang zwischen Machtgenuss und dem Reiz an deren Missbrauch hinlänglich bekannt ist. Gleiches gilt auch für Parteien, selbst wenn sie „christlich“, „grün“ und wahlweise auch „sozial“ im Namen tragen, es gilt sowohl für kirchliche als auch für alternativ/linkgsgerichtete Organisatoren.

Die Ohnmachtsgefühle, die herbe Enttäuschung darüber, dass Strömungen und Gruppen, denen man sich sonst aufgrund ihrer Anliegen so verbunden gefühlt hat (und sich nach wie vor verbunden fühlt), für die man sich eingesetzt hat, diese Gefühle kennen viele von uns, die sich für eine Abschaffung des Systems der Prostitution einsetzen. Denn in Sachen Prostitution ist man früher oder später zu der Erkenntnis gezwungen, wie ernst es ihnen wirklich ist mit der Kritik an Machtverhältnissen und den Ungerechtigkeiten, die sich aus ihnen ergeben, wie weit es wirklich her ist mit ihrer Prämisse, sich für die Benachteiligten und Gefährdeten in unserer Gesellschaft einzusetzen. Ob sie "unbequem sein" als schmückendes Etikett mit sich herumtragen und den Schwanz einziehen, sobald sie in den eigenen Reihen auf Hindernisse stoßen, oder ob es ihnen ernst ist mit ihrer Kritik an ausbeuterischen Systemen, unabhängig davon, ob die Tonangebenden sie dafür sanktionieren.

Dass das Tabu, sich kritisch über dieses System zu äußern, bis in den Verwandten-, Bekannten- und Freundeskreis hinein reicht, ist eine weitere bittere Einsicht und ein weiterer Erfolg der Taktiken der Pro-Prostitutionslobby, die sich irgendwann verselbstständigt haben. Ihre "Wahrheiten" erzählen sich bei Kaffee und Kuchen, beim Friseur, in der Mittagspause oder beim Kegeln dank guter Nährbodenpflege ganz automatisch weiter, da kann sie sich voll und ganz auf Politik, Medien und NGOs konzentrieren.

In diese hat sie sich mit bewunderungswürdigem erschreckendem Geschick infiltriert, hat sie ihrer Schlagworte beraubt und verschickt unter deren Deckmantel Leitfäden an die Medien. Oft ist der Deckmantel auch gar nicht mehr notwendig, denn Sexkäufer werden auch schon mal als humanitäre Helfer suggeriert und überhaupt ist doch alles ganz normal und legal hier, so viel zum Thema "weg mit dem Stigma". Auf Sexkäufern und BordellbetreiberInnen lastet tatsächlich kein Stigma mehr, welch Erfolg, und auch ZuhälterInnen- und MenschenhändlerInnenverbände arbeiten kräftig an der Rehabilitierung ihres Images.

Und das Stigma, das auf den Prostituierten lastet? Nun, wer auf Freierforen nachsieht, dem wird es wie Schuppen von den Augen fallen, aus welcher Ecke die Stigmatisierung wirklich kommt. Sie kommt von Männern, die Frauen benutzen und sie dafür verachten. Als kleine Anekdote sei hier angemerkt, dass als Inspirationsvorlage für Stieg Larssons "Verblendung/The Girl with the Dragon Tattoo", das im Original lose übersetzt "Männer, die Frauen hassen" heißt, die langjährigen schwedischen Studien im Prostitutionsmilieu gedient haben, die zum schwedischen Gesetz von 1999 geführt haben.

Und so schließt sich der Kreis und die "Wahrheiten" der Pro-Prostitutionslobby werden von wohlmeinenden, aber schlecht informierten Menschen (und leider auch von weniger wohlmeinenden, aber um die geht es hier nicht) in Medien, Politik, bei Organisationen und in der "Zivilgesellschaft" nachgeplappert.

Wie kann es sonst sein, dass die taz und die meisten anderen Akteure der deutschen Medienlandschaft einen unkritischen Beitrag nach dem anderen bringen?

Dass Prostitutionsromantik nicht mehr nur ein Hirngespinst alter Männer ist, sondern dass sich auch die Verfasserinnen feministischer Blätter und die Engagierten der Jugendabteilungen linker Parteien den Kopf von rot blinkenden Lämpchen verdrehen lassen, ohne zu merken, dass sie auf dem Körper einer Frau herumtreten, die leider nicht sagen kann, dass sie Hilfe braucht? "Oh, Verzeihung, wie ungeschickt von mir. Kann ich Ihnen den nächsten "Freier" [Sadisten] hereinbringen? Ich finde das ja toll, was Sie hier machen."

Wie kann es zudem sein, dass der Deutsche Frauenrat immerfort von Freiwilligkeit singt und die ihm angehörenden Verbände, die dezidiert für eine Verbesserung der Lebenssituation von Frauen eintreten, hörig folgen?

Dass auf der BUKO 36 eine Juanita Henning (Doña Carmen) eingeladen wird, die sehr ehrgeizig und eifrig bis in die höchsten Sphären der Politik agiert, lobend auf Menschenschleuserseiten genannt wird und allen Ernstes glaubhaft machen will, Prostitution sei ein Mittel, mit dessen Hilfe Frauen aus Osteuropa am Reichtum entwickelterer Länder teilnehmen können (siehe oben, Sexkäufer als humanitäre Helfer)...

Wie kann es sein, dass Amnesty International, ja, Sie haben richtig gelesen, dass Amnesty International von einem bekannten Bordellbetreiber infiltriert wurde, der am wegweisenden Positionspapier der Organisation hin zu vollständiger Legalisierung und Entkriminalisierung aller Prostitutionsbereiche mitschrieb? Die Angelegenheit schwelt nach wie vor, wovon nach unserer Erfahrung nur wenige in den Orstverbänden wissen – auch das ist gewollt.

Und wie, bitte wie kann es sein, dass ein paar Leute über einen Blog den Job schultern müssen, für den Journalisten, Politiker usw. bezahlt werden?

Je nachdem, wie erfolgreich die "Wahrheiten" bei den jeweiligen Personen verankert worden sind, werden sie auch schon mal aggressiv denen an den Kopf geschleudert, die das System der Prostitution konsequent hinterfragen. So hat es die Lobby geschafft, von sich selbst abzulenken, engagierte Gruppen zu spalten und für Handlungsunfähigkeit zu sorgen. Sie hat dafür gesorgt und sorgt auch jetzt aktiv dafür, dass alle schön fest die Augen verschließen, von Prostitutionsromantik träumend, und ja nicht sehen, dass hier, in diesem Land, in unserer direkten Umgebung, routinemäßig und am laufenden Band Menschenrechte verletzt werden.

Aber Prostitution ist doch eine freie Entscheidung, die Frauen wollen es doch. Dann sollen sie auch mit den Konsequenzen leben, oder? Könnte es vielleicht an dieser weitverbreiteten Einstellung liegen, dass wir in diesem Land bei zigtausenden prostituierten Frauen, Kindern und Männern nur eine handvoll Ausstiegsprogramme haben?

"Freiwilligkeit", die schön glänzende Vorderseite jener Geldstücke, mit denen ganze Bevölkerungsteile bezahlt und kaputt gemacht werden und auf deren Rückseite hässlich "selbst schuld!" prangt.

Ich frage mich wirklich, wie die Leute später einmal reagieren werden, wenn man sie, also jene, die etwas hätten ausrichten können, fragt, wie sie wegschauen konnten und ob sie denn irgendetwas von dem Ganzen gewusst hätten, bevor der Tag kam, an dem man all die Menschen aus den Bordellen befreit hat. Einen Vorgeschmack bietet Rebecca Motts Text “Long Road” - aber Vorsicht: kann Spuren von starkem Tobak und Desillusionierung enthalten.

1 Kommentar:

  1. Danke, Saoirse. Gleich mehrere Nägel mitten auf den Kopf getroffen!

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